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Bild: Leonardo Beulen Faura / bonnFM

Zwischen Drachen und Schafen – ein Semester in Wales

Lesezeit: 4 Minuten

Oftmals vergessen und unterschätzt, jedoch äußerst interessant und vielseitig. Das kleine Anhängsel Englands hat viel zu bieten. bonnFM nimmt euch mit auf eine Reise zu Fischerdörfern, Metropolen, malerischen Stränden und baufälligen Baracken – und das alles nur wenige Kilometer voneinander entfernt.

Das erste was man bemerkt, sobald man die Severn, den Grenzfluss zwischen England und Wales passiert, ist, dass die Schilder jetzt zweisprachig sind. Auf den zweiten Blick fällt einem dann auch auf, dass alles irgendwie weniger schön und pompös aussieht, als in England. Tatsächlich ist Wales das ärmste Land des Vereinigten Königreiches, aber dafür vielleicht auch das stolzeste. Denn apropos England: Einen Waliser mit einem Engländer zu verwechseln, ist die größte Beleidigung, die man einem Waliser antun kann. Aber wenn das Land, im Vergleich zu England zumindest, so arm und heruntergekommen ist, was bewegte mich dazu, dort ein ganzes halbes Jahr zu verbringen, wenn ich doch auch auf Universitäten in England oder Irland hätte gehen können?

Ein oft übersehener Geheimtipp

Damit ihr alle versteht, warum ich ausgerechnet nach Wales, besser gesagt Swansea wollte, reichen drei Worte: Uni am Meer. Spaß beiseite, natürlich war das nicht alles. Wales hat einfach eine andere Kultur, eine andere Sprache und andere Leute, die mir, im Gegensatz zu England, noch nicht bekannt waren. Das Walisische ist eine schöne, wenn auch schwere Sprache, die Leute sind nicht so snobby wie in Oxford, Liverpool oder London und Wales hat eine einzigartige Landschaft und das wohl coolste Nationalsymbol der Welt: einen Drachen.

Ein etwas anderer Urlaubsort

Ich werde nicht lügen, nach den Klausuren und Hausarbeiten war mein Auslandssemester wie ein Urlaub. Und was tut man da? Man besucht Sehenswürdigkeiten, geht auf Festivals mit walisischer Musik, sieht dort eine seiner Lieblingsbands und verbringt jede freie Minute mit einem kühlen Cider am Strand – zumindest in Wales. Doch nicht einmal eine Stunde entfernt erwarten einen dichte Wälder mit weitläufigen Seen und wieder einige Stunden weiter eine moorige Sumpflandschaft mit Schlössern und den höchsten Bergen des Landes. Doch man muss nicht weit wegfahren, um die wahre Schönheit des Landes bewundern zu können. Die Gower-Halbinsel, auf der sich Swansea befindet, besitzt zahlreiche Strände, die regelmäßig unter den Top 10 der schönsten Strände Großbritanniens zu finden sind. Obwohl der Strand in Swansea selbst schon einladend ist, ist wohl der Strand in Rhossili, einem kleinen Fischerdorf an westlichen Zipfel der Halbinsel, der größte Geheimtipp. Auf der Landzunge, die sich bestimmt 50 Meter über dem Meeresspiegel befindet, hat man wohl eine der besten Aussichten auf die endlosen Weiten des Atlantiks, bei der sich Stunden anfühlen wie Minuten.

Bemerkenswerte Menschen und Kultur

Bild: Leonardo Beulen Faura / bonnFM

Wer, wie ich, in London landet und über England nach Wales fährt, merkt den Unterschied sofort. Schon beim passieren der Grenze sieht man, dass die Schilder neben Englisch auch auf Walisisch geschrieben sind. Die Waliser sind stolz auf ihre Kultur und vor allem auf ihre Sprache, die mal so gar nichts mit irgendeiner Sprache zu tun hat, die man als Normalsterblicher kennt. Und generell ist Stolz ein wichtiger Begriff. Bei dem alljährlichen Jugendfestival für walisische Kultur und Sprache, dem Urdd Eisteddfod, fielen eine amerikanische Kommilitonin und ich auf, weil wir kein Walisisch konnten. Man fragte uns, ob wir denn etwa Engländer seien, was wir lachend verneinten und unsere Geschichte erzählten. “Thank God” war die Antwort bevor man uns erklärte, dass es die Schlimmste Beleidigung für einen Waliser sei, wenn man England mit Großbritannien gleichsetze oder man sage, Wales liege in England.
Beim Urdd wurde es klar, dass die Waliser ein eher ruhiges Völkchen sind, die auch gerne mal Zeit unter sich verbringen. Das Klischee der betrunkenen, sich prügelnden und Krawall machenden Briten erfüllen sie am wenigsten. In abgelegenen Kleinstädten im Hinterland Wales, abseits von allen großen und von von Engländern verseuchten Städten zelebrieren sie ihre Kultur, ihre Sprache und vor allem ihre Musik. Man hat das Gefühl, sie seien alle bodenständig und bräuchten nicht viel, um glücklich zu sein.

Freizeit und Nachtleben

Bild: Leonardo Beulen Faura / bonnFM

Die Waliser lieben ihre Natur und schützen sie auch. Mit viel Liebe zum Detail pflegen sie ihre Wälder, Strände und Berge. Ein Großteil der Freizeit – und vor allem das Nachtleben – spielt sich jedoch in der Stadt ab. Ein Highlight war das Welsh Varsity, der kleine Bruder des traditionellen Wettbewerbes zwischen Oxford und Cambridge. Dabei treten die zwei größten Unis in Wales, Cardiff und Swansea, gegeneinander an. Über eine Woche zieht sich der Wettbewerb in allen erdenklichen Disziplinen, das Highlight sind jedoch die Rugbyspiele am Ende, wo zum Teil riesige Stadien mit Studenten gefüllt sind. Die Stimmung und das gegenseitige Anstacheln der jeweiligen Studenten sorgen für einen unvergesslichen Tag.
Wenn die Waliser jedoch eins können, dann ist es feiern. Und in Swansea kann man das mehr als gut auf der Wind Street. Passend fast wie “Wine Street” ausgesprochen. Auf einer einzelnen Straße reihen sich Bars, Pubs, Clubs und Essensläden aneinander und von Cocktails bis Craft Beer ist für jeden was dabei. Und die Waliser gehen gut und gerne feiern, manche bis zu fünf mal die Woche. Gerne wird dabei das Konto überzogen oder die Ersparnisse geplündert. Aber was tut man nicht alles für eine gute “sesh”?

 

Bild: Leonardo Beulen Faura / bonnFM

Was nehme ich also mit aus meinem Auslandssemester? Natürlich viel mehr, als in diesen Artikel reinpasst. Als jemand, der im Rheinland mit viel Grün, aber jedoch ganz ohne Strand aufgewachsen ist, hat mich sowohl eben dieser als auch die natürliche Vielfalt fasziniert. Die Waliser an sich sind ruhig, gemütlich, gastfreundlich und neugierig auf neues, sind zufrieden mit ihrem Leben, können aber auch feiern und abgehen, wenn es darauf ankommt. Großbritannien hat mich nie wirklich angezogen, nicht so wie die USA oder Asien. Ich dachte immer, es sei nichts besonderes. Wales hat jedoch meine Sichtweise vollkommen verändert. Ich kann nur jedem empfehlen, diesem oft übersehenen und unterschätztem Land eine Chance zu geben und dorthin zu reisen. Ich werde es auf jeden Fall nochmal tun.

 

Mehr Fotos findet ihr hier.

Wer sehen möchte, was Wales musikalisch zu bieten hat: