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Bild: Aaron Tsangaris / bonnFM

„Ich kann es mir niemals vorstellen, eine große und aufwendige Bühnenshow zu haben“. The Pineapple Thief im Interview.

Lesezeit: 7 Minuten

Die britische Rockband The Pineapple Thief hat sich nach mittlerweile zwölf Studioalben als feste Größe der europäischen Prog-Landschaft etabliert. Nicht zuletzt liegt dies in ihrer Label-Heimat bei der Londoner Plattenfirma Kscope begründet, die in der Vergangenheit unter anderem mit den Veröffentlichungen diverser Alben von Steven Wilson, Porcupine Tree oder Anathema ihren Ruf gefestigt hat. So liegt auch die Verbindung nahe, die zur Neubesetzung am Schlagzeug für das aktuelle The Pineapple Thief Album „Your Wilderness“ vorgenommen wurde. Gavin Harrison, ehemals Drummer von Porcupine Tree und gefragter Gastmusiker, drückt der Formation deutlich seinen Stempel auf. Über die Details der Zusammenarbeit, über die Formen des zeitgenössischen Musikkonsums und über vieles mehr haben Harrison und Bruce Soord, Sänger sowie Kopf und Hauptsongwriter der Band, bonnFM vor ihrem ausverkauften Konzert im Kölner Luxor Rede und Antwort gestanden.

bonnFM: Das aktuelle Album „Your Wilderness“ ist bereits seit einer Weile veröffentlicht; ihr wart damit auf Tour und etwa ein Jahr ist seitdem vergangen. Haben sich die Songs im Laufe der Zeit in eurer Wahrnehmung geändert, sowohl beim Hören der Album-Versionen als auch während der Live-Shows?

Gavin: Nicht wirklich. Soweit wir können, spielen wir sie ohnehin ziemlich genau so wie auf dem Album. Es gibt trotzdem kleine Parts, in denen sich leicht etwas ändert, ein paar kleine Improvisationen.

Bruce: Wenn wir die Songs live spielen, sind sie schon sehr nah an den Album-Versionen. Eine Sache, die mir aufgefallen ist, ist dass die Vocals live etwas mehr Druck bekommen. Durch die Live-Aufnahmen (für den Konzertfilm „Where We Stood“, Anm. d. Red.) wurde mir das klar. Es ist dann ein wenig mehr energiegeladen, was aber nicht unbedingt etwas Gutes ist. Wenn man vor vielen Leuten steht und die Songs live singt, dann gibt es halt eine andere Energie, die zum Vorschein kommt.

bonnFM: Vermutlich hat man sich mittlerweile auch mehr an die Songs gewöhnt?

Bruce: Absolut, jetzt fühlt sich alles sehr vertraut an.

bonnFM: Es war mit bereits möglich, den Konzertfilm „Where We Stood“ zu schauen, der mich insofern besonders beeindruckt hat, dass der gesamte Fokus beinahe ausschließlich auf die Musik gelegt ist. Es gibt keine riesige Lichtshow und die Impression ist eine sehr ruhige, die ohne viel Hektik auskommt. Ist das ein bewusster Ansatz bei den Darstellungen eurer Konzerte?

Bruce: Wir hatten dieses Thema der Liveshows in unseren Gesprächen und denken uns immer: Was sollen wir tun? Brauchen wir Projektionen? Brauchen wir dieses und jenes? Manchmal, wenn ich mir Konzerte anschaue, bei denen eine Menge in dieser Richtung los ist, dann scheint es mir, dass es ingesamt weniger um die Band geht. Es geht dann mehrheitlich um die Show. Ich bin persönlich jemand, dem es sehr um die Band geht. Ich gucke mir besonders den Frontmann und den Drummer an. Für mich ist die Performance der Band das, worum es mir geht. Also ja, für mich ist das eine bewusste Entscheidung. Ich kann es mir niemals vorstellen, eine große und aufwendige Bühnenshow zu haben.

bonnFM: Auch ohne den Aspekt des Budgets?

Bruce: Ja, ungeachtet des Budgets. Ich ziehe das traditionelle „lass uns die Band anschauen“ vor.

bonnFM: Es ist euer Job, in einer Band zu spielen, aber geht ihr selbst häufiger auf Konzerte anderer Musiker?

Bruce: Nicht mehr so viel, wie ich das mal getan habe. Wie ist es bei dir, Gavin?

Gavin: Nein, ich auch nicht.

Bruce: Es ist schon lustig. Man verbringt all seine Zeit auf der Bühne und auf Tour. Wir werden schon häufiger von befreundeten Bands gefragt, ob wir vorbeikommen wollen, aber das ist wohl ein Opfer, das man bringen muss.

„Jetzt beginnen die Leute, ein Album zu hören und nach etwa einer Minute fangen sie an, bei Facebook vorbeizuschauen und auf Youtube und Twitter unterwegs zu sein“

bonnFM: Diese Aussage hört man tatsächlich öfter, was auch nicht verwunderlich ist. Lasst uns über ein anderes Thema sprechen. Ich würde argumentieren, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne gegenüber allen möglichen Dingen und speziell Kunstformen, die mehr als drei Minuten Aufmerksamkeit benötigen, insbesondere durch moderne Technologien immer weniger geschätzt werden. Würdet ihr dem zustimmen und stellt es für euch ein Problem dar? Ihr seid eine Band, die diesen kurzen Aufmerksamkeitsspannen häufig nicht entspricht.

Gavin: Ich kann sehen, dass die jüngeren Generationen mehr Ablenkungen haben, als wir damals (Gavin Harrison wurde 1963 geboren, Anm. d. Red.). Die Leute starren die ganze Zeit auf ihre Handys, schauen auf Facebook und Twitter und was auch immer. Das gab es halt nicht, als wir jung waren. Ich glaube, es gibt einfach viel mehr Dinge, von denen man abgelenkt wird. Vielleicht ist die Musik dadurch etwas weiter unten auf der Liste der Dinge gelandet, für die man sein Geld ausgeben will. Unter Umständen möchte man eher Grand Theft Auto 9 oder so kaufen und es dann fünf Stunden am Tag spielen.

Bruce: Wahrscheinlich während man sich mit seinen Kumpeln unterhält. Das ist der Punkt, den ich beobachte; es gibt nicht nur eine Sache, die man tut.

Gavin: Möglicherweise hört man die Musik im Hintergrund. Das Schlimmste ist, dass man ihr nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die sie benötigt. Es ist einfach etwas, das man tut, während man joggen geht, während man Fahrrad fährt oder neben dem Spielen auf der Playstation. Es wird einfach im Hintergrund getan. Der Grad der Wichtigkeit hat sich deutlich verändert. Als ich achtzehn war, war Musik das absolut Wichtigste. Ich saß mit Kopfhörern in einem dunklen Raum und habe der Musik hundert Prozent meiner Aufmerksamkeit gegeben. Jetzt beginnen die Leute ein Album zu hören und nach etwa einer Minute fangen sie an, bei Facebook vorbeizuschauen und auf Youtube und Twitter unterwegs zu sein.

bonnFM: Passiert euch das manchmal auch, wenn ihr ehrlich seid?

Gavin: Der einzige Moment, bei dem ich Musik im Hintergrund laufen lasse, ist beim Begleichen meiner Rechnungen. Und auch nur aus dem Versuch, mich von den verdammten Rechnungen abzulenken (lacht). Alle drei Monate mache ich das und dann spiele ich meine Lieblingsalben ab. Ansonsten höre ich nicht richtig zu. Wenn ich zuhören möchte, setze ich mich vor meine Lautsprecher und höre wirklich zu.

Bruce: Ich denke gerade über die Anzahl der Leute nach, die mir Musik senden und mich darum bitten, sie anzuhören. Ich tendiere dazu, nicht weiter zu hören, wenn ich nicht innerhalb von zwanzig bis dreißig Sekunden interessiert bin und die Musik mir keinen Grund gibt, sie noch länger laufen zu lassen. Und das ist ein echtes Problem. Ich denke schon, dass es ein Problem ist, aber ich schätze, dass sich die Leute dann doch etwas zu viele Sorgen darum machen. Wenn du dir die Leute anschaust, die zu unseren Konzerten kommen, dann ist das demographische Spektrum von jung zu alt recht weit und bei den Shows brauchst du mehr als drei Minuten Aufmerksamkeit. Man wundert sich schon, wie es in der Zukunft sein wird; man fragt sich, ob das Album-Konzept in zwanzig bis dreißig Jahren noch existieren wird. Ich denke schon.

bonnFM: Beeinflusst das Thema der Aufmerksamkeit, vielleicht auch unterbewusst, euer Songwriting in irgendeiner Weise?

Bruce: Mich persönlich nicht. Obwohl man natürlich niemals möchte, dass es langweilig wird. Wenn ein Song eine Weile brauchen kann, um zur ersten Strophe zu gelangen, heißt das nicht, dass man ihm aus Prinzip eine besonders langes Intro verpassen muss, nur damit es ein Prog-Rock Song wird. Und wenn man sich „Your Wilderness“ anhört, dann sind die meisten Songs ohnehin nur vier bis fünf Minuten lang. Im Grunde kommt mir das nicht in den Sinn.

bonnFM: Was soll progressive Musik überhaupt sein? Die alte und immer wiederkehrende Frage.

Bruce: Ganz genau.

„Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht jeden Job annehmen muss, der mir angeboten wird.“

bonnFM: Noch eine eher spezifische Frage an dich, Gavin. Nachdem du über all die Jahre mit vielen verschiedenen Musikern zusammen gespielt hast; was für dich das Essenzielle, das den Reiz ausgemacht hat, mit The Pineapple Thief zusammenzuspielen?

Gavin: Nur das Geld und die Frauen (lacht). Das ist doch eigentlich genug, oder?! Also entweder mag ich Musik oder ich mag sie nicht. Ich kategorisiere sie nicht in Genres. Ein Genre ist eine hervorragende Ausrede für jemanden, um deine Lebensleistung zu ignorieren. Ich denke also nie: „Oh, das ist aber ein bisschen progressiv“ oder „das ist aber ein bisschen jazzig“. Wie gesagt: entweder ich mag etwas oder ich mag es nicht und normalerweise kann ich dir innerhalb von dreißig bis vierzig Sekunden sagen, in welche Richtung es geht. Als ich die Songs gehört habe, die Bruce mir vor achtzehn Monaten geschickt hat, hatte ich einfach eine gute Verbindung zu ihnen. Sobald man eine gute Verbindung zu Musik hat, beginnt man, inspirierende Ideen zu haben und man genießt den Prozess. Ich bin an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht jeden Job annehmen muss, der mir angeboten wird. Oftmals schicken mir Leute Musik und es mögen auch gute Songs sein, aber sie verbinden sich einfach nicht mit mir. Aber diese Musik hat es getan und es war ein erfolgreicher Prozess, der zu der Idee geführt hat, warum man nicht auch live zusammen spielen sollte. Ich denke, dass es mir das erste Mal passiert ist, dass aus einer Internet-Session eine Tour geworden ist.

Bruce: Es war gegenseitig so. Die Drums kamen ziemlich früh, denn die groben Songideen gab es schon, aber sie waren noch nicht fertig oder richtig produziert. Als dann das Schlagzeug dazu kam, hat es den Fokus und das Gefühl der Songs deutlich verändert. Somit war John, unser Bassist, inspiriert, in eine andere Richtung zu gehen, denn Bass und Schlagzeug sind natürlich stark miteinander verwoben. All das hat das Album an einen Ort gebracht, von dem ich niemals geglaubt habe, dass es dort herauskommen würde. Das ist auch das Schöne daran, in einer Band zu spielen. Dann dachte ich: „Wie ist das eigentlich alles zusammengekommen?“.

bonnFM: Dadurch wurde meine nächste Frage im Grunde bereits beantwortet. Aber nochmal präziser gefragt: Wie viel Gavin Harrison ist letzten Endes auf der Platte zu hören? Im Sinne von: Inwieweit warst du am Songwritingprozess beteiligt, Gavin?

Gavin: Bruce hat mir das Material geschickt und gesagt, dass ich damit tun könne, was auch immer ich will. Was toll ist. Dadurch dauert aber auch alles viel länger. Wenn man etwas mit Demo-Drums bekommt und es exakt so sein soll, dann kann man es einfach nachspielen und das geht schnell. Wenn man aber mehr Spielraum hat, dann gibt es natürlich auch viel mehr Möglichkeiten, andere Ideen und Dinge einzubringen. Es gab ein paar Songs, bei denen ich kleine Veränderungen am Arrangement vorgeschlagen habe. Es gab dann Parts, bei denen ich etwas herumgeschnitten und sie zurück an Bruce geschickt habe. Damit waren solche Fragen verbunden, wie: „Ist es ok, wenn ich diesen Takt verändere? Wenn du es magst, mache ich damit weiter“.

Bruce: Es hat einen riesigen Unterschied gemacht. Besonders bei „The Final Thing On My Mind“. Es gab dann ein Lied, das kurz vor Vollendung des Albums noch nicht ganz fertig war. Ich war festgefahren und wusste nicht, wie ich weitermachen sollte.

bonnFM: Um welchen Song geht es?

Bruce: Das war „Tear You Up“. Der Mittelteil ist letztlich ein Drum-Part aus verschiedenen Spielweisen, über den der Rest der Band gejammt hat. Das war wirklich neu, denn man denkt, dass es etwas Steriles ist, wenn man so etwas über das Internet macht, aber es war beinahe so, als würde eine Band in einem Raum zum Jammen zusammen kommen. Es war ein erfolgreicher Prozess.

bonnFM: Vielen Dank für eure Zeit!