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Tote Mädchen lügen… auch

Lesezeit: 5 Minuten

Jährlich begehen in Amerika knapp 6000 Teenager Selbstmord, über 10 Mal so viele junge Mädchen werden vergewaltigt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Seit kurzem ist die zweite Staffel „13 Reasons Why“, in der deutschen Fassung „Tote Mädchen lügen nicht“, auf Netflix zu sehen. Es geht um Schuld, Verantwortung, Freundschaft, Loyalität, Vergebung und vor allem und ganz viele sehr verstörte Teenager.

Hannah Baker ist zurück. Knapp 14 Monate nach Staffel 1 wird die Geschichte des Mädchens, das durch Mobbing in den Selbstmord getrieben wurde, in 13 einstündigen Folgen weitererzählt. An dieser Stelle ist zu vermerken, dass alle, die die erste Staffel noch nicht kennen, hier besser nicht mehr weiterlesen und stattdessen lieber Netflix öffnen.

Nicht für jeden geeignet

„13 Reasons Why“ war eine der kontroversesten und meistdiskutiertesten Serien des letzten Jahres. Auf der einen Seite wurde die Serie gelobt, auf häufig tabuisierte Themen wie Mobbing, sexuelle Nötigung und Selbstmord aufmerksam zu machen, auf der anderen Seite kritisierten Ärzte und Psychologen auf der ganzen Welt, die extremen Gewaltdarstellungen in der Serie könnten negative Auswirkungen auf psychisch labile Zuschauer haben. Es wurde sogar über ein Verbot der Serie diskutiert – stattdessen hat Netflix einfach eine zweite Staffel der umstrittenen Serie produziert.

Die Handlung beginnt einige Monate nach Hannahs Tod. Die Rahmenhandlung ist eine Gerichtsverhandlung, die Hannahs Eltern gegen die Schule führen, um diese für ihre fehlende Hilfeleistung zur Verantwortung zu ziehen. In jeder Folge sagt ein anderer Zeuge vor Gericht aus: Dabei wird der schon bekannten Story um Hannahs Leben in den Monaten vor ihrem Tod einiges hinzugedichtet, manches nachvollziehbar, anderes fraglich. Vor allem wird eins deutlich: Bei jeder Geschichte gibt es immer zwei Seiten.

Die zentralen Figuren bleiben weitestgehend dieselben. Mädchenschwarm Bryce ist weiterhin unerträglich macho-mäßig, Zach hin und her gerissen zwischen seiner „Freundschaft“ zu den Jungs und seiner Vernunft, Tony geheimnisvoll, Tyler irgendwie unheimlich, aber auch interessant. Vertrauenslehrer Kevin Porter und Noch-immer-unglücklich-in-Hannah-verliebt-und-sie-als-Geist-sehender Clay sind von Schuldgefühlen geplagt und haben beide einen Helferkomplex entwickelt.

Die Kritikpunkte an der Serie scheinen die Produzenten aber doch nicht ganz kalt gelassen zu haben, denn die erste Folge startet mit einer kurzen Sequenz, in der die Figuren der Serie erklären, dass diese für psychisch labile Menschen nicht geeignet ist. Am Ende jeder Folge wird zudem ein Hinweis auf die Website 13reasonswhy.info eingeblendet, unter der man sich Hilfe suchen kann, wenn man depressive Gedanken hat.

„How can you fix something if you don’t know it’s broken?“

Eine Perspektive wird in den neuen Folgen sehr gut deutlich gemacht: Die der Eltern. Diese sind in den meisten Fällen naiv, egoistisch und verantwortungslos, aber eben auch einfach hilflos, wenn es darum geht, ihre Kinder vor dem bösen in der Welt zu beschützen. Hannahs Mutter, Olivia Baker, verkörpert die Zerrissenheit, nicht genug getan zu haben, nicht einmal gesehen zu haben, was mit ihrer Tochter passiert und dass diese buchstäblich totunglücklich ist. Sie ist eine der überzeugendsten Figuren der Staffel. Auch die Auswirkungen, die Hannahs Selbstmord auf ihre Eltern und deren Beziehung hat, sind sehr nachvollziehbar.

Den Eltern der Highschool-Kids werden im Laufe des Prozesses reihenweise die Augen geöffnet, dass ihre Sprösslinge es faustdick hinter den Ohren haben: Dass sie Sex haben, Drogen nehmen, andere Kinder beleidigen, einschüchtern und schikanieren. Die Highschool erscheint hier gewissermaßen wie eine schlecht geskriptete Reality Show, bei der man einfach nicht anders kann, als extrem wütend zu werden über die ganzen Jugendlichen, die sich durch unnötiges Drama das Leben selbst so schwer machen. Und trotzdem hört man von den ahnungslosen Eltern den klassischen Spruch „he is a good boy“ mehr als nur ein paar Mal.

Es ist so einfach, zu sagen, dass die Schulzeit nicht immer schön ist, aber dass das ja vorbeigeht. Dass es danach besser wird. Dabei ist genau diese Phase für die Jugendlichen häufig alles, was zählt. Es gibt kein Danach, es gibt nur das Jetzt. Und in diesem Jetzt kann eine einzige Entscheidung, eine unbedachte Handlung, ein blöder Spruch ungeahnte Konsequenzen haben.

Sexuelle Gewalt gegen Frauen steht im Vordergrund

Teenager können grausam sein, das weiß fast jeder. Leider ist die Darstellung in „13 Reasons Why“ sehr eindimensional: Es sind vor allem die Jungs, die grausam sind, und die Mädchen müssen darunter leiden. Die Jungs haben Sex mit vielen unterschiedlichen Frauen und werden dafür bewundert, andersrum reicht es aus, wenn ein unvorteilhaftes Foto in die falschen Hände gerät, dass den Mädchen der Stempel „Schlampe“ aufgedrückt wird.

„That’s how it is for girls: People judge you by the way you look, the things they hear about you. They put a label on you. I just feel like boys get to define themselves. They get to choose their identity and they can hide behind it. Well, most boys. I think some know what it’s like to be afraid, to feel like the world gave you a certain label that you have to live with for the rest of your life. But most boys don’t know what it’s like. Every single girl does.” (Staffel 2, Folge 3)

Während in der ersten Staffel das Mobbing in der Schule im Vordergrund steht, dreht sich die zweite Staffel überwiegend um die zwei Vergewaltigungen. Jessica sieht sich mit der Situation konfrontiert, sich selbst eingestehen zu müssen, was ihr passiert ist, um ihrer Freundin zu helfen. Jeden Tag sieht sie ihren Vergewaltiger in der Schule, dazu kommt der Kummer um ihren Ex-Freund, in den sie immer noch verliebt ist und der ihr nicht geholfen hat. Eine unerträgliche Situation – Jessica ist ein sehr starker und eindrucksvoller Charakter in der Serie.

Rund um Jessicas Story herum wird das große Fass von sexueller Nötigung, Emanzipation, sozialem Druck und Geschlechterdiskriminierung aufgemacht. Am Ende des Gerichtsprozesses, der irgendwann nicht mehr so viel mit den Gründen für Hannahs Selbstmord und der Schuldfrage zu tun hat, sondern eine Eigendynamik entwickelt hat, sagt Olivia Baker, sie kenne keine Frau, die nicht schon Opfer von sexueller Gewalt war. #MeToo lässt grüßen.

13 Reasons Why Not

Die zweite Staffel von „13 Reasons Why“ kaut die Schuldfrage immer und immer wieder durch. Es geht um Rechtfertigungen für die eigenen Taten bis zu einer Grenze, an der sich nichts mehr rechtfertigen lässt, und darum, dass man sich selbst auch nicht für alles die Schuld geben kann. Außerdem geht es um den Wunsch, irgendwo dazuzugehören, die Bedeutung wahrer Beziehungen und wie viel es ausmachen kann, nur eine einzige Person zu haben, die einem zur Seite steht. Es geht um Manipulation und das Gefühl der Ausweglosigkeit, um Zweifel, falsche Loyalität, verletzte Gefühle, Vergebung und um Liebe. Natürlich alles gewürzt mit ganz ganz ganz viel Drama.

Auch Staffel 2 traut sich was, bricht Tabus. Im Endeffekt ist die Story einfach nur tragisch. Es ist tragisch, wie schnell und unbedacht Menschen andere Menschen verletzen, wie wenig sie über ihre eigenen Taten nachdenken. Und es ist tragisch, dass viele Jugendliche für sich alleine nicht die notwendige Stärke haben, um über das Jetzt hinwegzusehen. Die Staffel macht deutlich, dass Hannah auch viele Gründe zu leben hatte, diese haben ihr aber nicht ausgereicht.

Fazit: Die Staffel startet eher schwach und oberflächlich, es geht viel um die Frage, wer jetzt genau wen gemobbt hat. Später nimmt die Handlung an Spannung und Tiefe zu und hat ein paar starke Botschaften im Gepäck. Kurz vor Ende gibt es noch ein paar Überraschungen… Die Serie hätte mit einer starken Botschaft enden können. Stattdessen hat sie sich dafür entschieden, das Ende ziemlich in die Länge zu ziehen und nochmal in der Klischee-Kiste amerikanischer Hollywood-Serien zu kramen und sich daran zu bedienen. Es lässt sich mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass es eine dritte Staffel geben wird.

Aber eins schafft auch Staffel 2 in jedem Fall: Zum Nachdenken anzuregen.