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Bild: bonnFM/Nicola Trenz

Sommernächte in der Bib: Wie ich ein Stockholm-Syndrom zu meiner Hausarbeit entwickelt habe

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Lesezeit: 3 Minuten

„Unter Stockholm-Syndrom versteht man ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Dies kann dazu führen, dass das Opfer mit den Tätern sympathisiert und mit ihnen kooperiert.“ (Wikipedia)

ULB in Bonn (Prokrastinationsexpertise lässt grüßen), Blick über den grauen Strom, viele Bücher neben mir, hustende Nachbarn hinter mir, Lüftung unter mir, Licht an – aus über mir, Klappcomputer vor mir. Ich bin gefangen in einem Kasten aus Glas. Ein Käfig, in dem ich die Außenwelt sehen, aber nicht fühlen kann. Ich sehe den Sommer draußen, aber ich spüre ihn nicht: Nicht die 15°, nicht den Regen, nicht den Wind dieses Julitags 2016.  Meine anfängliche Bekannte lässt mich nicht los, lässt mich nicht gehen. Sie ist immer bei mir.

Die ersten Begegnungen

Damals, als ich noch frei, jung und naiv war, im Frühling, war ich auf die Idee gekommen, mal schon während des Semesters mit meiner Hausarbeit Bekanntschaft zu machen. Am besten schon im Mai und nach den Pfingstferien bin ich dann fertig mit ihr. Sicher.

Daraus wurde natürlich nichts, aber nichtsdestotrotz habe ich mir schon relativ früh im Semester, also Ende Juni, selbst ein Thema ausgesucht, was mich für meine Seminararbeit interessieren würde: Nicht auf den letzten Drücker, in Ruhe in Literatur reinlesen, in Ruhe eine spannende Fragestellung finden, in Ruhe nähere Bekanntschaft mit meiner Hausarbeit machen war der Plan. Sicher.

Thema hatte ich dann irgendwann, Bücher auch und nach einigem Lesen war ich anscheinend felsenfest davon überzeugt, dass ich der wohl erste und einzige Mensch bin, der auf zwölf Seiten zusammen mit meiner Hausarbeit quasi alle Fragen der menschlichen Existenz umfassend zu bearbeiten und beantworten in der Lage ist. Ich wollte wirklich mal von der Begegnung mit meiner Hausarbeit profitieren, über Dinge nachdenken, die mich weiterbringen würden. Was daraus wurde? Meine Naivität im Themenfindungsprozess wurde mir zum Verhängnis und meine Hausarbeit schlug mit ihrer ganzen Kraft um sich: Sämtliche Gliederungsideen, mögliche Fragestellungen und zudem noch meine schlecht sortierten Literaturangaben flogen mir um die Ohren. Mein anfängliches Interesse schlug völlig um in (um nicht zu übertreiben, aber) abgrundtiefen Hass auf das idiotische Thema meiner Hausarbeit. Meine flüchtige Bekanntschaft, mit der ich anfangs interessante Begegnungen hatte, wurde zu meiner Peinigerin. Ich fühlte mich gefangen davon, meiner persönlichen Freiheit beraubt. Konnte nicht weg vom Thema, da ich dafür ja schon recherchiert und mir Gedanken gemacht hatte. Geisel meiner eigenen Hausarbeit.

Ein emotionales Verhältnis

Diese Phase des Gefühls der Gefangenschaft habe ich inzwischen überwunden und auf unerklärliche Weise habe ich inzwischen ein positives emotionales Verhältnis zu meiner Arbeit aufgebaut. Fast wahnhaft sympathisiere ich inzwischen mit ihr und kooperiere. Völlig verwundert über den eigenen Sinneswandel informiere ich mich über Begründungen dieses Phänomens; nicht zuletzt weil ich in dieser Recherche großes Prokrastinationspotenzial sehe. Meine Recherchen ergeben, dass meine inzwischen überdurchschnittlich positive Einstellung zu meiner Hausarbeit wohl auf eine Wahrnehmungsverzerrung, die in Zeiten der Gefangenschaft entstanden sind, zurückzuführen ist. Die Arbeit hat mich so tief ruiniert, dass ich nun nur noch in der Lage bin, einen Teil der Gesamtsituation zu erfassen. Von außen kam keine Hilfe, das einzig Positive, was ich in den Tagen der völligen Unbeweglichkeit in meiner Hausarbeit erfahren habe, war die Tatsache, dass mir noch der Gang zur Toilette und zum Falafelstand, zum Tibeter oder zum Kaffeeautomaten ermöglicht wurde – durch meine Hausarbeit. Diese kleinen Freiheiten hatte sie mir ermöglicht. Meine Peinigerin, die eine Zeit lang vollständige Kontrolle über mich hatte, kann ja auch nichts dafür, dass sie mich gefangen nimmt. Sie dient einem höheren Ziel, sie kämpft für eine große Sache, das verstehe ich, seit sie mich in ihrer Gewalt hatte: Sie kämpft für umfassende Bildung nach dem Humboldt’schen Ideal einer Volluniversität, in der Lehre und Forschung Hand in Hand arbeiten, in der geistige Größen reifen können sollen. Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass Humboldt damit einen Textkörper in Blocksatz Times New Roman 10, Deckblattseitenzahlen mit römischen Ziffern, Fußnoten mit Autor: Titel. Untertitel, Ort Jahr, S. Punkt und rund 10 Seiten einer Arbeit meint, in der die zukünftige gesellschaftliche Elite selbst Denken und Erkenntnisse gewinnen, dabei aber jeden Gedanken belegen soll. Meine Hausarbeit hat mich instrumentalisiert für ihre Zwecke und ich kann sie endlich verstehen; sie kann ja auch nichts für ihre 6-LP-Modulabschluss-Bologna-Rolle, für die sie versucht zu kämpfen.

Zum Abschluss möchte ich noch ein Zitat anführen (sowas macht sich gut im Anfang oder Schluss von Hausarbeiten, habe ich gelernt. Am besten kursiv schreiben, habe ich gelernt. Und was für Hausarbeiten stimmt, stimmt für jede Lebenslage.)

Wilhelm Humboldt sagte 1792: „Gleichförmige Ursachen haben gleichförmige Wirkungen“

Kann der ein oder andere vielleicht mal drüber nachdenken. Den Gedanken dann aber bitte belegen.