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Annika Schilling (Anna Karenina), Daniel Stock (Wronski), Christian Czeremnych (Alexej Karenin), Otto Koch (Serjoscha), © Thilo Beu

Minimalistische Inszenierung großer Weltliteratur: Anna Karenina von Luise Voigt im Theater Bonn

Lesezeit: 4 Minuten

Es existieren viele Inszenierungen von Tolstois weltweit berühmten Roman Anna Karenina. Auch das Theater Bonn reiht sich nun mit der Version von Luise Voigt ein. Am Freitag, den 29. Oktober 2021 war die Premiere. Unerwartbarer und gleichzeitig doch vertrauter hätte das Stück nicht sein können. 

“Schrecklich! Solange ich lebe, werde ich es nie vergessen. Sie sagte, es sei eine Schande, neben mir zu sitzen.” – Anna Karenina

Liebe, Moral, Familienglück und Stolz – so kann man die Themen von Lew Tolstois wohl bekanntestem Roman Anna Karenina zusammenfassen. Die Geschichte erzählt von der russischen gehobenen Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts, in der drei miteinander verwobene adelige Familien im Zentrum stehen: Die junge Kitty und ihre Beziehung zu dem Gutsbesitzer vom Land Lewin, Kittys ältere Schwester Dolly und ihre Ehe zu dem Fürsten Stepan Oblonski, in welcher es weniger um Liebe und viel mehr um das gegenseitig Ertragen geht und natürlich die Hauptfigur Anna Karenina. Sie ist Stepan Oblonskis Schwester und mit dem angesehenen Alexej Karenin verheiratet. Diese Ehe zerfällt jedoch durch die Liebesaffäre zwischen Anna und dem Grafen Alexej Wronski, was sie in den gesellschaftlichen Untergang treibt und letztendlich auch zu ihrem Selbstmord führt. Wenn man Anna Karenina liest, hat man das Gefühl es geht irgendwie um gar nichts und gleichzeitig um alles. Wenn man nicht gerade Literaturwissenschaften studiert, dann kennt man solche Texte vermutlich höchstens noch aus dem Deutsch LK in der Schule. 

1000 Seiten auf der Bühne

Nun ist Anna Karenina ein dicker Roman und ursprünglich nicht für die Bühne geschrieben. Ich habe mich auf dem Weg ins Theater einige Male gefragt, ob das tatsächlich gut umsetzbar ist, ohne wichtige Handlungsstränge zu vernachlässigen und es gleichzeitig nicht zu einem vierstündigen Stück ausarten zu lassen. Nach der Premiere letzten Freitag, am 29. Oktober war mir aber klar: Doch, das geht. Die Regisseurin Luise Voigt hat es geschafft diesen Koloss an Roman auf elegante und leicht anmutende Weise in eine Inszenierung zu verwandeln, ohne dass man im Publikum das Gefühl hatte, die Geschichte sei auf Biegen und Brechen in anderthalb Stunden reingequetscht worden.

Gleichzeitig muss ich aber sagen, dass die Umsetzung eine ganz andere ist als ich mir eine Inszenierung von Anna Karenina vorstelle. Vermutlich ist diese Meinung jedoch von meiner Vorstellung von altehrwürdigen Moskauer Theaterbühnen und der Verfilmung von Joe Wright mit Keira Knightley in der Hauptrolle eingefärbt. Ich denke automatisch an rote Vorhänge und beeindruckende Bühnenbilder. Auch in Voigts Anna Karenina ist das Bühnenbild beeindruckend, jedoch nicht, weil es vor vielen Details schillert, sondern weil es minimalistischer nicht sein kann. Zu sehen waren große schwarze Rahmen mit weißen herunterhängenden Fäden, auf die Videos und Live-Aufnahmen des Bühnengeschehens projiziert wurden. Gleichzeitig agierten die Fäden als Vorhänge, durch die die Schauspieler*innen auf die Bühne kommen und von dieser auch wieder verschwinden konnten. Die Videoinstallationen, für deren Arrangement Stefan Bischoff verantwortlich ist, haben die Emotionen, die die Schauspieler*innen am Freitag auf eine faszinierende Art auf die Bühne gebracht haben, um ein Vielfaches intensiviert, wodurch das Publikum durchgehend durch all die ambivalenten Emotionen der Figuren mitgerissen wurde. Das wurde durch die großflächigen Nahaufnahmen der Gesichter der Schauspieler*innen umgesetzt. Man brauchte kein Bühnenbild. Die Emotionen der Figuren waren das Bühnenbild. 

Alle Wege führen nach Tolstoi

Ob man direkt zu Beginn einen roten Faden erkennen kann und mit der Erzählung mitkommt, wenn man die Romanvorlage im Vorfeld nicht gelesen hat, ist etwas fragwürdig. Meine Begleitung, die den Roman nicht gelesen hat, sagte zu mir, sie habe zu Beginn ein oder zwei Momente gebraucht, um die Geschichte auf der Bühne nachvollziehen zu können. Mit fortschreitender Handlung wurde man jedoch irgendwann eingefangen und wird genauso mitgenommen, wie die Karenina-Connoisseur*innen im Publikum. Dennoch kann ich empfehlen zumindest in den Roman reinzuschauen und sich damit etwas näher zu befassen, bevor man sich in die Sitze des Godesberger Schauspielhauses setzt, falls man das noch nicht getan hat. Mit dem Roman im Hinterkopf muss man sich nicht mehr krampfhaft darauf konzentrieren, die Handlungsstränge nachzuvollziehen. Man hat dann die Möglichkeit die Inszenierung auf Grundlage des Romans ganz genau unter die Lupe zu nehmen und sich auf die dramaturgischen Details zu fokussieren. Es war interessant zu sehen, wie Voigt den Roman auf eine vollkommen andere Weise gelesen hat als ich. Ich hatte das Gefühl die Geschichte aus ganz anderen Augen zu betrachten. Allein für diesen Perspektivwechsel und das Hineinversetzen in andere Lesarten, lohnt sich die Lektüre im Vorfeld. 

Dennoch wurde Tolstoi nicht neu erfunden, was mich tatsächlich erleichtert hat. Die Hauptdarstellerin Annika Schilling sagt im bonnFM-Interview: “Wir haben deswegen jetzt bestimmte Themen, die zu seiner Zeit natürlich noch keine Rolle gespielt haben, wie Queerness oder Diversität, nicht mit eingebracht, weil so zu aktualisieren ist vielleicht gar nicht so richtig. Sondern wir haben uns darauf konzentriert welche Themen nach wie vor extrem modern sind, wie Abhängigkeiten in der Gesellschaft, Selbstbestimmtheit, wie man versucht das als Frau zu erreichen und wie man an so Konventionen zu Grunde gehen kann, wie die Gesellschaft eine Hölle werden kann.” 

Drei Frauen im Mittelpunkt

Der Fokus des Stücks liegt auf den drei Frauen Anna Karenina, Dolly und Kitty. Man blickt vor allem auf ihre Lebensentwürfe, ihren Wunsch nach der einen wahrhaftigen Liebe und ihre zum Teil sehr ambivalenten Gefühle. Auch wenn die Männer eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen, geht es in dem Stück um die Beziehungen zu ihnen aus Sicht der drei Frauen. Wie gehen sie mit diesen Beziehungen um und wie verändern diese Beziehungen sie? Vor allem die Entwicklung der Anna Karenina ist in dem Stück mitreißend und einzigartig. Obwohl man Annas Werdegang begleitet und sie während ihres Wandels beobachtet hat, hatte man am Ende das Gefühl die Figur nicht mehr wiederzuerkennen. Das spricht vor allem auch für die unfassbare schauspielerische Leistung von Annika Schilling. Sie hat die dunkelsten Seiten ihrer Figur auf die Bühne gebracht, die man als Tolstoi Leser*in nicht kennt und niemals erwarten würde. Auch wenn es so viele Interpretationen und Inszenierungen der Anna Karenina gibt, die alle auf die eine oder andere Weise einander gleichen, hatte ich das Gefühl bei der Premiere eine zwar dem Original nicht vollkommen ferne, jedoch in vielerlei Hinsicht neue Anna Karenina kennengelernt zu haben.

Das Stück beschäftigt und nimmt viel Platz in meiner Gefühlswelt ein. Es ist emotional und komplex, es macht einzigartige Bilder auf und lässt mich Tolstois Klassiker ganz neu betrachten. Gleichzeitig habe ich diesen fast in jeder Sekunde des Stücks wiedererkannt. 

Das Stück hatte am Freitag, den 29. Oktober 2021 seine Premiere. Karten sind noch erhältlich unter bonnticket.de und solange das so ist, sollte man die Möglichkeit unbedingt nutzen und sich in das Leben der drei Familien reinsetzen.