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Ein Kommentar zu Hannah Arendts 115. Geburtstag

Lesezeit: 4 Minuten

Hannah Arendt hat Hochkonjunktur. Seit einiger Zeit sind die Schränke der Buchhandlungen vollgestopft mit ihren Werken, vor Kurzem wurde in der Bundeskunsthalle die Ausstellung „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ gezeigt, die Publikationen zu Arendt häufen sich und morgen feiert sie auch noch ihren 115. Geburtstag. Grund genug, um einen kritischen Blick auf die große Denkerin zu werfen.

Hannah Arendt und der Rassismus

„Ich habe mich noch in den 50ern für Rassendiskriminierung eingesetzt“, sagt eine Frau im braunen Kostüm. Kant und Marx fragen: „Wer sind sie denn?“ Antwort: „Hannah Arendt, Philosophin“

Dieser Satz stammt natürlich nicht von der wirklichen Hannah Arendt, sondern von den Köpfen hinter der Satiresendung Die Anstalt des ZDF. Die darauffolgenden Sätze, in denen sie den „afrikanischen Völkern“ eine Mitschuld an dem imperialistischen Rassismus ihrer weißen Unterdrücker zuschreibt und dabei die vulgärsten Stereotype trocken reproduziert, jedoch schon. Sie entstammen obendrein einem von Arendts Hauptwerken, dem 1951 erschienenen Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. In der Sendung wird sie symbolisch auf einen Sockel neben Kant und Marx gestellt, damit die drei (in ebenso symbolischer Manier) wegen ihrer rassistischen Aussagen davon heruntergestoßen, oder eben gecancelt werden können. Die Sendung erschien im Juli 2020, sprich auf einem Höhepunkt des empörten Kulturkampfes á la „[beliebige rassistische Beleidigung] darf man ja wohl noch sagen dürfen!“ und setzte sich satirisch-kritisch mit den vom deutschen Bildungsbürgertum so gepriesenen Denker*innen auseinander.

Das politische Denken / das Politische denken

Mehr als ein Jahr später und kurz vor Arendts 115. Geburtstag stellt sich die daraus fließende Frage erneut: Was kann uns eine Denkerin bitteschön noch sagen, die sich zum Teil in den herrschenden Vorurteilen ihrer Zeit verfing, ja diese sogar noch intellektuell unterfütterte, obwohl sie es hätte besser wissen müssen? Doch die Antwort liegt schon in der Frage selbst begründet – nämlich, dass sie es tatsächlich besser wusste. Das geht nicht zuletzt aus einem Abschnitt in ihrem 1967 erschienen Aufsatz Wahrheit und Politik hervor. Dort beschreibt sie das Phänomen des politischen Denkens, das im Gegensatz zum „normalen“ wissenschaftlichen Denken nicht auf Wahrheit ausgerichtet ist, sondern auf qualifizierte Urteilsbildung abzielt

Diese ist wiederrum durch das Mitdenken möglichst vieler verschiedener Standpunkte bezüglich einer politischen Fragestellung gekennzeichnet, so Arendt. Das funktioniert nur, wenn man mithilfe der Einbildungskraft von dem eigenen Standpunkt Abstand nimmt und sich die Standpunkte der Anderen (besonders der Betroffenen) vor Augen führt. Die Gesamtheit des Verfahrens markiert den schon im Schulunterricht so oft beschworenen kritischen Meinungsbildungsprozess, der gerade „nicht blind bestimmte, mir bekannte, von anderen vertretene Ansichten“ (Arendt 2019: 61) unhinterfragt akzeptiert. Je mehr unterschiedliche Standpunkte dadurch inkludiert werden, desto qualifizierter fällt das abschließende politische Urteil aus.

Arendt an Arendt messen

Im Umkehrschluss heißt das jedoch, dass Arendts eigene politische Urteile nicht immer hochqualifiziert ausfallen. Ihre rassistischen Ausfälle – die von der Anstalt rezitierten Stellen, ebenso wie kritische Äußerungen gegenüber den Eltern der „Little Rock Nine“ in dem Aufsatz Reflections on Little Rock Nine von 1959 und weitere – decken auf, in welcher Weise sie andere Standpunkte vernachlässigt hat. Im Besonderen den Standpunkt der von rassistischen Strukturen unterdrückten Menschen. Arendt wird somit dem eigens konzipierten politischen Denken nicht gerecht. Durch die unkritische Reproduktion rassistischer Stereotype rennt sie geradewegs gegen die intellektuelle Wand, die sie sich selbst aufgestellt hat.

Und jetzt?

Diskreditieren diese Aussagen Teile ihres Werkes, vielleicht sogar ihr Gesamtwerk? Müssen wir, wie es das Team der Anstalt in ihrer Sendung andeutet, Arendt vom Sockel stoßen? Dass Arendt ihren eigenen Theorien nicht immer gerecht wird, heißt nicht, dass diese für uns keine Bedeutung mehr haben – im Gegenteil. Es heißt vielmehr, dass ihr Werk die Person Arendt sowie manche ihrer politischen Urteile überstrahlt. Ihre Theorien können daher als ein geeignetes Werkzeug im Kampf gegen eben die strukturelle Unterdrückung begriffen werden, der Arendt selbst an diversen Stellen durch Verbreitung diskriminierender Stereotype Vorschub geleistet hat.

Denken und handeln!

Dass solche Strukturen und Stereotype bis heute existieren, macht es umso wichtiger, das politische Denken Arendts wiederzubeleben. Schließlich lehrt es uns, von dem eigenen Standpunkt zu abstrahieren, den Standpunkt der Unterdrückten im eigenen Meinungsbildungprozess mitzudenken und dieses Denken sodann in politisches Handeln zu übersetzen, das die bestehenden Strukturen durchbricht. Denn gerade bei Arendt bleibt es nicht beim bloßen Denken. In paradoxer Weise ist sie die Denkerin des Handelns und ihr ganzes Werkt dreht sich im Kern um diese eine Möglichkeit: Durch öffentliches und gemeinsames politisches Handeln die verkrusteten Strukturen aufzubrechen und einen Neuanfang zu wagen.

Am Ende mit Freude neu anfangen

Die Möglichkeit eines durch gemeinsame politische Aktion induzierten Neuanfangs wirkt gerade heute äußerst attraktiv. Das ist nur konsequent nach jahrelangem, schlingerkursartigen Manövrieren im Sinne des Status quo zwischen den anstehenden und bevorstehenden Krisen hindurch – von denen strukturelle Unterdrückung definitiv ein Teil ist. Trotz des allgemeinen Pessimismus, zu dem diese Krisen zweifelsohne Anlass geben, lehrt uns Arendt noch an Wunder zu glauben – und zwar „nicht weil wir wundergläubig wären, sondern weil die Menschen solange sie handeln können, das Unwahrscheinliche und Unerrechenbare zu leisten imstande sind“ (Arendt 1993: 35). Das wundersame Durchbrechen unserer festgefahrenen alltäglichen Denkmuster und tief verankerten gesellschaftlichen Strukturen bleibt möglich – im Sinne eines gemeinsamen politischen Anfangs, der aus sich heraus etwas Neues in die Welt setzt.

Kritischer Hype

Arendt kann somit durchaus als Denkerin der Stunde gelten und es scheint nicht länger verwunderlich, dass die Schränke in den Buchhandlungen neuerdings von oben bis unten mit ihren Werken gefüllt sind. Bei aller Euphorie darf aus den gezeigten Gründen eine kritische Beleuchtung ihres Werkes jedoch nicht ausbleiben. Blinde Akzeptanz würde Arendt schließlich selbst nicht gerecht werden. Wir sollten sie daher nicht unhinterfragt auf einen ewigen Sockel heben. Und wenn sie schon einmal dort steht? Nun, dann drängt die Bildung eines kritischen Urteils und anschließendes politisches Handeln, um Arendt sachte von eben diesem Sockel zu heben und ihre rassistischen Aussagen an ihren eigenen theoretischen Maßstäben zu messen.

Literatur:

Arendt, Hannah (2019): Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essay, 5. Auflage, München: Piper. 

Arendt, Hannah (1993). Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München: Piper.