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„Es war doch nur ein Jahr, oder?“

Lesezeit: 5 Minuten

Von Euphorie, Melancholie und Kitsch – oder eine Hommage an eine Erasmuserfahrung mit Corona

Paris. Metropole. Sehnsuchtsort. Stadt der Liebe. Voilà. Durchgestrichen – Paris. Das Jahr meines Lebens. Erasmus Ahoi. Erfahrungen fürs Leben. Bien. Doppelt durchgestrichen – Paris. Hassliebe zu französischen Filmen. Neue Heimat. Klischees. Ok. Letzten Absatz gelöscht.

Willkommen in Frankreich

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Spoiler: „A la recherche du temps perdu“ (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) stelle ich diesen Text jetzt erst mit einer Verspätung von mehreren Monaten fertig. Nicht, dass diese Kolumne jemals fertig sein könnte – ebenso wenig war es dieses Jahr. Wie beendet man ein Auslandsjahr, „das Jahr meines Lebens“, in mehreren 100 Kilometern Entfernung? Vor allem wenn man weiß, dass auf der Welt gerade wesentlich schlimmere Dinge passieren als die eigene Sehnsucht nach vielen verlorenen Tagen und besonderen Momenten? Müsste man sich dabei nicht eigentlich schuldig fühlen, wenn man die neuen Corona-Zahlen des Tages sieht und kurze Zeit später bei einem Bild des Eifelturms die Augen anfangen zu tränen? Nein, das nicht. Jedoch reicht dafür vielleicht ein gewisses Verantwortungsbewusstsein: ebenso wenig wie dieses Jahr für mich beendet ist, ebenso wenig ist es die aktuelle Situation. Auf der Flucht vor Wänden, die näher kommen und einem Schreibtisch, der der Wirkung eines schwarzen Lochs gleichkommt.

Wie oft ich diese Kolumne jetzt nun auf der Suche nach den richtigen Worten bereits geschrieben habe, kann ich wohl nicht einmal in Worte fassen. Dafür müsste das hier eben auch auf Französisch sein. Zumindest zum Teil. Tu parles pas français? (Du sprichst kein Französisch?) Manche Momente sind eben nicht anders als mit einem „Willkommen in Frankreich“ zu erklären. Aber irgendwie ging es letztendlich doch um diese Momente; Geschehnisse und wundersame kulturelle Vorkommnisse, die du gerade exklusiv in dieser Situation erleben durftest – wie eine Privatvorstellung der französischen Knigge. Auch wenn der Applaus für diese Vorstellung niemals stattfinden durfte, heißt es ja nicht, dass es keine weiteren Vorstellungen mehr geben darf, oder? Der Eiffelturm wird weiter leuchten und abends einmal die Stunde blinken. Schon kitschig, oder? Aber auch wunderschön.

Die Wahrheit über Erasmusaufenthalte?

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Es war doch nur ein Jahr, oder? Mit verfrühten Schmetterlingen im Bauch und einem angeschwollenen Herzen in der Hose, ging es letztes Jahr im September mit gepackten Koffern auf ins Abenteuer. Auf in die große weite Welt, in die Metropole Paris. Ein Jahr an einer fremden Uni, in einer noch fremderen Stadt. Was bleibt davon hängen? Eine wissenschaftliche Definition gibt es dafür wohl nicht. Aber irgendwas muss es wohl sein, dass mich nicht los lässt. Etwas, dass mich bei dem kleinsten Anflug Frankreich dazu gebracht hatte, eine ganze lange Zeit lang erstmal mein Handy durch mein Zimmer zu pfeffern, als eben dieses Abenteuer im März und mit ihm auch das Paris wie ich es kennen lernen durfte ein Ende hatte. Das war Paris und es ist vorbei. So vollkommen übertrieben und theatralisch wie das jetzt klingt. Aber auch diesen Satz konnte ich fünf Monate lang nicht aussprechen. Selbst, als mein kleines Pariser Zuhause ​längst wieder Geschichte war und ich mit meinen Koffern wieder zurück in meinem Kinderzimmer saß. Bref (Kurz gesagt): Über was sprechen wir hier eigentlich? Eine Enthüllungsstory über die Wahrheit von Erasmusaufenthalten? Die Details, die in meinem Erasmusbericht nichts zu suchen hatten? Über eine Art komisches Abhänigigkeitsverhalten, das mich dazu gebracht hat mich immer wieder aufs neue so unfassbar in diese Stadt zu verlieben? Hey Erasmus, was hast du eigentlich mit mir gemacht?

Dabei hatte alles so schön angefangen – wie eine Riesenklassenfahrt. Mit stundenlangen Spaziergängen in irgendwelchen Boulevards und Ruelles. Mit Picknicks am Fuße von le Sacré-Coeurs und einer Audienz im Spiegelsaal bei seiner Exzellenz dem Sonnenkönig höchstpersönlich. Wir hatten diese Stadt für uns entdeckt und sie zu unserem Zuhause gemacht. Das bleibt es.

Glück im Unglück?

Du kennst das, du wachst auf und bist in Paris. Das war nochmal, aber dennoch niemals gewöhnlich. Auch wenn jeder Morgen nicht aussah wie in einer Soap, hatte jeder Kaffee am Fenster mit einer aufwachenden, pulsierende Großstadt unter einem eine gewisse Magie. Jeder Moment schien einfach selbst etwas Besonderes gewesen zu sein. Egal, ob im positiven oder negativen Sinne – immer mit einem Zwinkern in den Augen! Nur, wer ist dieser Mensch gewesen und wo ist er nun hin verschwunden? Wo ist diese übermotivierte Möchtegern-Version einer Pariserin jetzt, die durch jedes noch so große Boulevard oder durch jede noch so kleine Ruelle flanierte und sich den großen Köpfen von gestern so nah fühlte wie noch nie? Auch nachts, wenn die Angst plötzlich in diesem feindlichen Umfeld ganz alleine zu sein wie weggefegt war und ich für den Bruchteil einer Sekunde denken konnte, mit einem Mal stark genug zu sein um Bäume auszureißen? Wie hatte diese Parallelversion von mir mit erhobenen Kopf es geschafft, sogar in Jogginghose und mit Schlabberpulli auf dem Weg zum Einkaufen durch meine Straße anmutiger zu laufen wie auf keiner Fashionweek dieser Welt? -Und anmutiger als man es Zuhause niemals könnte. Ohne Highheels wohlgemerkt.

Paris, wo fange ich an? Beziehungsweise wo mache ich weiter? Ich weiß es nicht. Auch wenn mir bewusst ist, dass diese Zeit, dieser „Verlust“, einfach nichts im Vergleich zu so vielen anderen Dingen dieses Jahr war und ich mich eigentlich glücklich schätzen kann, „Glück im Unglück“ gehabt zu haben und im März nach Hause gekommen zu sein. Dennoch habe ich das Gefühl einen Teil von mir in dieser Stadt verloren zu haben – um es mit diesen kitschigen Worten zu sagen, die auch die Möchtegern-Pariserin in den Mund genommen hätte. Was tun, wenn der Kitsch demnächst mal wieder mit mir durchbrennen sollte? Sofortmaßnahme: Eine Tasse Tee, Bilder und die Lieblingssongs des letzten Jahres, apéro à distance (Viedeoanruf mit Erfrischungen) mit ein paar lieben Menschen. Und wenn es irgendwann wieder möglich sein sollte, eben Landflucht: Zurück in die Zukunft und zurück ins Ausland! Es fühlt sich an wie das Ende eines langen Sommers, ohne Sommer – dafür aber mit sehr vielen eingefrorenen Frühlingsgefühlen. Die Zeit ist irgendwie im Herbst stehen geblieben und wartet darauf wieder weiterlaufen zu dürfen. Aber was ist wenn der Winter kommt?

Französisch und manchmal märchenhaft

Es wird kälter und es ist wichtig, sichan den Erinnerungen zu wärmen. Gleichzeitig aber auch, dennoch irgendwie zu einem Ende zu kommen und dabei den Blick und das Bewusstsein für das Aktuelle nicht zu verlieren. Nicht das zu sehen, was wir nicht gemacht haben, sondern eben das, was wir aus dieser Zeit ​gemacht haben. All’ die vielen Momente vor dem blinkenden Eiffelturm, Lachanfälle in der Uni, oder einfach nur das Gefühl in Paris zu sein und dort zu leben. Freundschaften über die Grenzen hinweg. Alles immer mit einer gewissen Überheblichkeit und einer bestimmten Dekadenz. Und irgendwie ist es doch ein schöner Gedanke immer noch Möglichkeiten offen zu haben und sich noch auf weitere dumme Ideen in einer so bekloppten Stadt freuen zu können. Wir kommen wieder – Ja, das ist eine Drohung.

Was bleibt von diesen ganzen besonderen Momenten? Von Bildern und Gedanken, die sich jetzt so weit weg anfühlen? Von dem Schuldgefühl, im Lockdown nach Hause gefahren zu sein und dabei auch irgendwie aufgegeben zu haben? Dieses Uni-Jahr eben nicht in dieser Stadt beendet zu haben und vielleicht auch den Status als Pariserin auf Zeit damit verloren zu haben? Was bleibt überhaupt von der Pariserin in mir? Von meinem persönlichen Soundtrack des Jahres? Von kleinen Erinnerungsstücken, die jetzt in eine kleine Kiste in meinem Kinderzimmer passen? Die Spiegelung meiner Momentaufnahmen in einer Seifenblase, die gerade davon fliegt? Die Gewissheit, dass ich da war und das, so märchenhaft wie das alles hier klingt, dieses Jahr nicht nur toll und perfekt war. Es war echt, ein wirklich französisches Jahr. Und vor allem: Ein Jahr, in dem ich alles jedes Mal wieder so machen würde wie ich es getan habe. Eben nur irgendwann nicht mehr als Touristin. Das Recht zu haben, über „Emily in Paris“ zu lachen und einfach zu wissen, dass man selbst es jetzt eben besser weiß.

Und die Moral von der Geschicht’? Ich glaube, die gibt es nicht! Denn „Paris sera toujours Paris“ (Paris wird immer Paris sein).