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Bild: Frank Schwichtenberg / CreativeCommons

Europameister in Sexismus und Homophobie

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Wenn am Sonntagabend das EM-Finale zwischen Italien und England in London beginnt, wird in den gerade erst geöffneten Biergärten wieder viel Bier gezapft, als wäre Corona schon lange Geschichte. Deutschland ist im EM-Fieber und feiert die neu gewonnen Freiheiten mit Public Viewing und Fußballeuphorie. Ein Sieger der EM steht aber jetzt schon fest: ein veraltetes Männlichkeitsbild.

Extrawürste für den Fußball

Beim ZDF ist man zutiefst erschüttert, wenn Kommentatorinnen sexistisch beschimpft werden. Andere prangern Homophobie an und setzen Zeichen der Solidarität. Der Deutsche Fußball Bund (DFB) richtete dieses Jahr sogar eine Anlaufstelle für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt ein. Die Probleme werden angegangen, gehören Homophobie und Sexismus im Fußball also bald der Vergangenheit an?

Leider ist es damit nicht getan. Symbolische Gesten werden die gelernten und gelebten Strukturen nicht aufbrechen, denn die Ursachen liegen tiefer. Untersucht man sie, offenbart sich ein Männlichkeitsbild, das nicht nur vernarrte Fußballfans, sondern die gesamte Gesellschaft nachhaltig prägt.

„Der Held, der das Letzte gibt auf dem Platz, der ist ein Mann und kann keine Frau sein“
-Prof. Dr. Gabriele Sobiech

Im Fußball werde Männlichkeit gelebt und produziert, so der überwältigende Konsens der Sozial- und Kulturwissenschaft. Doch was heißt das konkret? Gabriele Sobiech ist Professorin für Gender Studies und Sportsoziologie an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg. Sie erklärt, dass sich im deutschen Fußball nationale Tugenden offenbaren. Kampfeswille und Durchhaltevermögen seien Eigenschaften, die vor allem Männern zugeschrieben werden. Der Held, der das Letzte auf dem Platz gibt, könne keine Frau sein. Im Fußball zeige sich ein Muster, das sich auch in gesellschaftlichen Geschlechterbildern wiederfinde: Frauen und Männer dürfen tun, was sie wollen, solange sie unterschiedlich wahrgenommen werden. Die Soziologin Gayle Rubin erkannte dieses Prinzip schon vor 25 Jahren und nannte es das Sameness-Taboo.

Beim DFB versuchte man zunächst, Frauen komplett aus dem Sport zu verbannen. 1955 untersagte der DFB seinen Vereinen, Frauenfußball anzubieten. In der Begründung hieß es, die „Kampfsportart [sei] der Natur des Weibes im Wesentlichen fremd“. Erst 1970 hob man das Verbot wieder auf. Doch noch heute scheinen sich manche nicht damit abfinden zu wollen. So erklärte der U-23 Trainer eines deutschen Männerclubs, Frauen gehörten nicht auf den Fußballplatz.

„Fußball“ spielen Frauen ohnehin nicht. Denn wer von Fußball spricht, meint in der Regel den Männersport. „Wenn etwas selbstverständlich ist, wenn ich vom Fußball spreche, dann spreche ich vom Männerfußball und wenn ich Frauenfußball meine, dann muss ich das auch so benennen“, sagt Sobiech. Dabei grenzen Männer sich auch untereinander ab. Wer sich als authentisch männlich behauptet, steht in der Hierarchie ganz oben, alle anderen werden abgewertet. Weil Homosexualität als Art der Verweiblichung gilt, ist es das ultimative Argument, jemanden aus der Gruppe auszuschließen. Von den über 500 aktiven Spielern der Bundesliga lebt heute keiner offen homosexuell, obwohl ihnen im Februar über 800 Profis Solidarität zusicherten.

„Wer nicht Mainstream ist, muss mit Diskriminierung leben“
-Prof. Dr. Gabriele Sobiech

Wer nicht Mainstream ist, müsse mit Diskriminierung leben, so Sobiech. Was das heißt, erlebt die Fußballkommentatorin Claudia Neumann nach nahezu jedem Spiel: Sie und ihre Kollegin Ariane Hingst werden in sozialen Medien regelmäßig sexistisch beschimpft: „Warum hört diese Quälerei nicht auf? Jetzt sind es schon zwei Frauen, die kommentieren. […] Warum erlöst uns niemand davon?“, schreibt ein Fan auf Twitter. Ein anderer beklagt: „Generationen von Männern haben sich auch deshalb auf Fußball gefreut, weil sie dann mal nicht von einer Frau zugetextet werden.“

„Wir haben immer noch ein Modernisierungsdefizit im Fußball“
-Prof. Dr. Gabriele Sobiech

Ende Mai veröffentlichte Neumann gemeinsam mit acht weiteren Frauen aus der Branche ein Papier. Sie fordern unter anderem eine Frauenquote in Vereinen und Verbänden, gerechte Bezahlung und Sanktionen im Kampf gegen Sexismus. Eine Antwort des DFB blieb aus, über 90 Prozent der wichtigen Positionen sind nach wie vor mit Männern besetzt. Es gebe immer noch ein Modernisierungsdefizit im Fußball, so Sobiech.

Damit sich die Strukturen bei DFB, UEFA und Co. ändern, braucht es sicher Mutige, die sich in die männliche Sphäre des Fußballs wagen und Alternativen vorleben. Aber nicht jede*r ist bereit, sich dem Hass auszusetzen. Solange Vereine und Verbände weiter darauf setzen können, dass die Fans am Ende trotzdem den Fernseher einschalten, nutzen Solidaritätsbekundungen und Kritik wenig. Sobiech blickt nun aufs nächste Turnier: Spätestens bei der WM in Katar werde sich zeigen, wie ernst man es mit der Solidarität meint – dann geht es auch um Menschenrechtsverletzungen und moderne Sklaverei.