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Bild: KRIPS / Statue des ehemaligen Bonner Geschichtsprofessor und Lyriker der Befreiungskriege Ernst Moritz Arndt am Alten Zoll

Sieger bestimmen die Geschichte? Studierende wollen es auch!

Lesezeit: 4 Minuten

Es gibt eine neue Hochschulgruppe – die Kritischen Historiker*innen fordern neue Strukturen und Inhalte. Auch in anderen Studienfächern gibt es ähnliche Ansichten.

Chloderich, der erste oder zweite? Oder war es vielleicht doch Chlodwig oder Childerich? Wer eine Mittelalter-Vorlesung besucht kann schnell durcheinander kommen in den Wirren der kurzlebigen fränkischen Herrscher und den ständigen Intrigen und Morden innerhalb der Familie. Doch bei der ständigen Auswendig-Lernerei von Merowingerdynastien und Jahreszahlen kommt auch die Frage auf, braucht es diese überhaupt? Und ist es überhaupt gerechtfertigt, dass das strikte Herunterrattern von Personen und Daten, die man leicht nachschlagen könnte, so einen zentralen und verpflichtenden Teil des Geschichtsstudiums einnimmt? Annkathrin Weber und Helena Bahr zwei Geschichtsstudentinnen im angehenden fünften Semester, sehen es jedenfalls nicht so. Denn der Fokus, der im Geschichtsstudium gesetzt wird, lässt einen Großteil der Bevölkerung aus und reproduziert patriarchale, eurozentrische und postkolonialistische Strukturen, so die Studentinnen. Daher haben sie sich zusammengetan und die Kritischen Historiker*innen, kurz KritHis, ins Leben gerufen.

Krit-Was?

Erst letzte Woche fand das erste Plenum der neuen Hochschulgruppe statt, doch die Liste der Sachen, an denen die Mitglieder sich stören ist bereits lang: gegen patriarchale, eurozentrische, rassistische, heteronormative, ableistische, klassistische, und postkolonialistische Strukturen. Selbst bezeichnet sich die Gruppe als „queer-feministisch“ und übt Kritik auf zwei Ebenen.

Die erste richtet sich gegen die Inhalte des Geschichtsstudiums. Die Personen, die behandelt werden sind meist weiß, männlich und Zugehörige der europäischen Elite ihrer Zeit. Auch die rezipierten Historiker sind kaum diverser. So wird eine einseitige Perspektive vermittelt, statt Geschichte in ihrer Ganzheit darzulegen. Es werden zwar Veranstaltungen, die sich spezifisch mit feministischen Themen, der Realität von Arbeiterklasse, Minderheiten oder der deutschen Kolonialgeschichte beschäftigen, angeboten, doch die Plätze sind begrenzt und Themen dieser Art können ohne sich darum bemühen zu müssen gemieden werden. In den obligatorischen und einem großen Teil weiterer Veranstaltungen sehen die Student*innen jedoch eine Reproduktion postkolonialistischer, patriarchaler Strukturen, die sie nicht weiter hinnehmen wollen. Stattdessen muss Bewusstsein geschaffen werden für Gruppen, die in der Geschichtswissenschaft oft übersehen werde: u. A. Frauen, queere Menschen, BIPoC (Black, Indigenous and People of Color, sprich nicht-weiße Personen) oder schlicht die breiten Masse, die nicht der oberen Schicht angehörte.

Doch nicht nur im Inhalt, auch in der Wissenschaft und Forschung sieht KritHis diskriminierende Strukturen. Tatsächlich gibt es am Institut neben sechs Professoren lediglich eine Professorin. Diesen Mangel an Repräsentation in der Lehre möchte die Hochschulgruppe nachhaltig ausgleichen.

Studienfachübergreifende Kritik

Die Forderung nach einem höheren weiblichen Anteil in der Lehre ist keine neue. Bereits Ende Januar riefen die KRIPS den Frauen*Notstand aus, denn auch am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie lehrt bis heute nur eine einzige Professorin. Die behandelten Theoretiker sind überwiegend bis durchgehend männlich. KRIPS – das sind die Kritischen Politik- und Sozialwissenschaftsstudierenden, die in ihrem Studienfach ähnliche Probleme sehen wie die KritHis. Auf Ihrem Instagram-Profil @krips_bonn fordern sie in einem öffentlichen Brief an das Institut die Aufnahme von kritischen Theorien, z. B. Feministischer Staatstheorie, in die Einführungsvorlesungen und eine Auseinandersetzung mit postkolonialen Strukturen und fehlender Repräsentation. Doch auch außerhalb der Universität sind sie aktiv und wollen auf das unreflektierte Erinnern historischer Persönlichkeiten deutscher Geschichte aufmerksam machen. So werden auf ihrem Profil Bonner Denkmäler gefeierter Persönlichkeit mit Zitaten versehen, die  diese in einem gänzlich anderen Licht erscheinen lassen als man sich heute erinnern möchte. „Wir müssen für unser Volk mehr Raum haben und dafür Kolonien“ spricht das Konrad-Adenauer-Denkmal auf der nach selbigem benannten Straße und hält am Traum eines deutschen Kolonialreiches fest.

Verdrängtes Erbe: Kolonien und Sklaverei

Dass Persönlichkeiten, die derartige Bekenntnisse gemacht haben, im öffentlichen Raum unreflektiert geehrt werden, kann irritieren. Ebenso verwirrt die Tatsache, dass deutsche Kolonialgeschichte im Lehrplan deutscher Schulen kaum, wenn überhaupt, Aufmerksamkeit zuteil wird, während man vor der NS-Zeit als zentrales, unumstrittenes Thema nicht zurückweicht. Dabei hatte Deutschland bis 1919 Kolonien, genannt Schutzgebiete, in Afrika und im Südpazifik. „Deutschland tut sich sehr schwer diese koloniale Vergangenheit wirklich gut aufzuarbeiten.“ erkennt Prof. Dr. Conermann, Professor für Islamwissenschaften. „Das gilt nicht nur für Deutschland, das gilt für alle europäischen Kolonialmächte. Das Erbe, das Sklavenerbe, das Kolonialerbe wird nur sagen wir mal mäßig engagiert aufgearbeitet.“ Auch Prof. Dr. Gymnich, Professorin für Anglistik, bemerkt: „Der Völkermord an den den Hereros, an den Nama das sind Phänomene, die Anfang des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, die glaube ich vielen Deutschen heute nicht mehr bekannt sind. Das ist eines von vielen Phänomen mit denen wir uns natürlich auch beschäftigen müssen.“ Noch heute steht das Grab von Lothar von Trotha, des preußische Generals, der den Vernichtungsbefehl in der Kolonie  Deutsch-Südwestafrika gab, auf dem Poppelsdorfer Friedhof unter Denkmalschutz.

Abhängigkeitsforschung in Bonn

Prof. Dr. Gymnich und Prof. Dr Conermann forschen beide am Exzellenzcluster Beyond Slavery and Freedom des Bonn Center for Dependency and Slavery Studies. Ziel dieses Projektes ist es, Sklaverei und sklavereiähnliche Abhängigkeitsstrukturen aus verschieden Erdteilen und zu verschieden Epochen zu erforschen; Phänomene, mit denen sich die Wissenschaft bisher fast ausschließlich auf dem amerikanischen Kontinent und in der Antike beschäftigt hat. So bringt Prof. Dr. Conermann ebenso an, dass nicht nur der Kolonialismus, sondern auch Sklaverei ein Thema ist, das oft zu kurz kommt: „Sklaverei kommt im Unterricht nicht vor. Der Zusammenhang von Sklaverei und Kapitalismus wird wenig thematisiert. Europa wird damit sehr stark reingehalten, sodass das eine sehr einseitige Leseart der Geschichte ist.“ Um dem entgegen zu wirken, erklärt Prof. Dr. Gymnich, hat man  vor „im Bereich Public Outreach auf jeden Fall  intensiv mit Schulen zusammen zu arbeiten“. Soweit möglich sollen Informationsmaterial und neue Module bereitgestellt werden.

Veränderung selbst in die Hand nehmen

Was bleibt nun für die Studierenden, die sich ebenso an den gängigen Strukturen stören und sich neue Inhalte, öffentliches Bewusstsein und/oder mehr Repräsentation wünschen? Die KritHis als auch die KRIPS treffen sich wöchentlich zum Plenum und sind für interessierte Studierende öffentlich zugänglich. „Die einzigen Skills, die man braucht, sind die Fähigkeit zu kritischem Denken und Lust darauf, etwas zu verändern“, ermutigen Helena und Annkathrin. Zu erreichen sind die Gruppen über die Email KritHis@outlook.de und den Instagram-Accounts @krithi_bonn und @krips_bonn.

Wer sich näher mit Abhängigkeitsstrukturen und interdisziplinärer als auch internationaler Lehre und  Forschung auseinandersetzte möchte, kann sich vom 17. August bis zum 11. September für den Master-Studiengang in Slavery and Dependency Studies bewerben.

Das komplette Interview mit Prof. Dr. Gymnich und Prof. Dr. Conermann findet ihr hier. Auf der Website des Clusters werden außerdem zukünftige Veranstaltungen wie Lesungen und Workshops veröffentlicht.