Distanziert, düster, ungemütlich – zugleich expressionistisch, bildgewaltig und emotional aufgeladen – so könnte man auf abstrakte Weise Das Mädchen mit der Nadel beschreiben. Dieser märchenhafte (das Märchen ist allerdings ein Horror) Film lädt ein, die dänische Gesellschaft in Zeiten des 1. Weltkriegs kennenzulernen – die Welt so grotesk, dass seine Figuren fast wie in einer Fabel wirken.
Wer ist das Mädchen mit der Nadel?
Kopenhagen kurz vor dem Ende des 1. Weltkriegs. Karoline arbeitet als Näherin in einer Fabrik – es ist kein sonderlich schönes Leben: Ihr Mann ist spurlos im Krieg verschwunden und sie wird aus ihrer Wohnung rausgeworfen. Als alleinstehende Fabrikangestellte verdient sie nämlich nicht genug Geld, um ihre Miete rechtzeitig zu bezahlen. Trotzdem muss Karoline in dieser tristen Welt zurechtkommen, also kämpft sie mit aller Wut und Kraft ums Überleben. Als sie den Fabrikleiter kennenlernt und sich auf eine Romanze mit ihm einlässt, scheint es endlich ein besseres Leben für sie zu geben. Sie wird schwanger und freut sich auf die anstehende Hochzeit, die das Ende für alle Sorgen rund ums Geld und Wohnraum bedeuten könnte. Doch umsonst – für eine Frau aus dem Proletariat gibt es keinen Platz im adeligen Haus des Fabrikleiters, trotz der Tatsache, dass sie sein Kind trägt. Und da taucht sie auf – die titelgebende Nadel, denn als Folge versucht Karoline in einem öffentlichen Badehaus ihr Kind mit einer riesigen Nadel selbstständig abzutreiben. Hier wird sie von Dagmar aufgefunden, einer älteren Dame, die Karoline bedingungslose Solidarität bietet. Später zieht sie bei Dagmar ein und darf für sie arbeiten – kommt jetzt ein ersehntes Happy End? In einem klassischen Märchen, vielleicht, dieses entwickelt sich allerdings zu einem Horror.
Cinematische Frauenwelt
Die Welt des Mädchens mit der Nadel ist eine Frauenwelt. Es stellt kein sonderlich großes Wunder dar – in den Zeiten des 1. Weltkriegs mussten Frauen in diversen europäischen Ländern viele „typische“ Männer-Jobs übernehmen, während letztere an der Front gekämpft haben. Im Film wird diese Welt mehrdimensional inszeniert: Sowohl mit visuellen als auch erzählerischen Mitteln. Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine starke Frau, die von anderen starken Frauen umgeben ist. Es gibt einige Szenen, in denen Karoline mit anderen Frauen interagiert – seien es ihre gute Freundin, ihre Vermieterin oder Dagmar. Diese Frauen sorgen selbstständig für ihren Unterhalt und Männer brauchen sie nur dann, wenn auf das Kind aufgepasst werden muss oder gar sexuelle Bedürfnisse befriedigt werden könnten. Männliche Charaktere bleiben fast immer am Rande der Erzählung und bis auf eine Ausnahme – Karolines verwundeten Ehemann, der aus dem Krieg zurückkehrt und von der Gesellschaft aufgrund seines Aussehens als Monster behandelt wird – tragen sie zum Erhalt des Patriarchats bei. Die Bilder spiegeln diese Tendenz wider: Häufig gibt es Szenen, in denen Frauenmassen zu beobachten sind; die Kamera folgt einzelnen Frauenfiguren, akzentuiert Interaktionen weiblicher Charaktere und ihr Miteinander.
Eine Hommage an die Pionierzeiten des Kinos
Das Mädchen mit der Nadel ist ein Film in schwarz-weiß – eine offensichtlich bewusste Entscheidung. An dieser Stelle könnte eine Diskussion folgen, ob heutzutage nicht jeder Film in schwarz-weiß das Ergebnis einer bewussten Entscheidung wäre; in diesem konkreten Fall geht es um eine Hommage an die Pionierzeiten des Kinos vor genau 100 Jahren. Es treffen sich Deutscher Expressionismus und Französischer Impressionismus, begleitet von einigen bekannten Kurzfilmen der Filmpioniere Auguste und Louis Lumière. Mitarbeitende verlassen die Fabrik. Dunkle, scharfe Figuren laufen durch die Stadt und werfen Schatten – typisch für den Weimarer Film wie „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“. Gesichter und insbesondere Augen werden in Nahaufnahmen gezeigt, um ihre Emotionen zu intensivieren; das erinnert an „La Passion de Jeanne d’Arc“ von 1928. Groteske Aufnahmen des Stadtpublikums kreieren einen boshaften, beklemmenden und teils unheimlichen Eindruck. Die Darstellungsform verbindet also visuelle Nostalgie mit modernen Mitteln wie der minimalistische, jedoch ausdrucksstarke elektronische Soundtrack, was insgesamt einen technisch faszinierenden und bildgewaltigen Film ausmacht.
Eine starke Geschichte mit dem falschen Hauptcharakter
Am Ende bleibt bloß die Geschichte – und hier trifft Das Mädchen mit der Nadel auf seine Limits. Auch wenn die Erzählung nie langweilig wird und der Film immer ein paar neue Karten auf der Hand hat, lassen sich einige Fragen in Bezug auf das Drehbuch nicht beantworten. Zum Beispiel entsteht manchmal der Eindruck, dass sich der Film nicht ganz sicher ist, wie er zu klassifizieren wäre: ein Drama, ein Horror oder gar in Teilen ein Biopic? In manchen Fällen kann eine Mischung aus verschiedenen Genres gut funktionieren; hier sorgt sie eher für Verwirrung. Noch mehr Fragen entstehen, wenn es um die Wahl des Hauptcharakters geht. Karolines Geschichte steht zwar im Fokus, jedoch wirkt es des Öfteren so, als ob hier nicht die falsche Entscheidung getroffen wäre, denn Dagmars Figur wirkt wesentlich interessanter, hat mehr Tiefe und Charakterstärke. Als Protagonistin hätte sie also sicherlich mehr zu bieten. Das Mädchen mit der Nadel bietet schließlich eine fesselnde und visuell atemberaubende Geschichte, die jedoch einen falschen Hauptcharakter hat.
