Stell dir vor, du musst in ein fremdes Land zum Arbeiten ziehen. Du kennst weder die Sprache noch die Kultur und du willst nur zurück zu deiner Familie. Das ist die Realität von Millionen von Gastarbeiter*innen gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland gekommen sind.
Sezen Aksu – Hadi Bakalim
In dieser alternativen Realität von dem Regisseur Roland Riebeling sind in den 70er Jahren nicht die Türken*innen als Gastarbeiter*innen nach Deutschland gekommen, sondern die Deutschen werden als Gastarbeiter*innen von der türkischen Regierung angeworben. Mit etwas Humor wird die tragische Geschichte eines solchen Gastarbeiters auf deutsch erzählt, während auf türkisch die Sehnsüchte und Träume besungen werden.
içimizde ne aç hevesler – Wir alle tragen Sehnsüchte in uns (Sezen Aksu – Hadi Bakalim)
Das Theaterstück „Istanbul“ erzählt die Geschichte von Klaus Gruber: Klaus träumt von einem besseren Leben für sich und seiner Familie. In der Hoffnung, mehr Geld zu verdienen, macht er sich auf in die Türkei, nach Istanbul. Klaus gehört zu den ersten Gastarbeiter*innen, die in Istanbul zwei bis drei Jahre arbeiten und nach einer bestimmten Zeit zurück nach Deutschland wollen. Das ist der Plan. Jedoch werden aus drei, fünf Jahre und aus fünf, zehn bis er in Istanbul arbeitet, lebt und stirbt – gearbeitet und gestorben, für und in einem (fremden) Land. Ein Land, das den Gast nicht lange dulden wollte, der jedoch zu einem wichtigen Bestandteil wurde. Obwohl er “ein kleines Rad in einem Betrieb [ist], das auch ohne [ihn] läuft”.
„Wer einmal ankommt, der geht nicht mehr.“
So geht es Klaus und seinen deutschen Freunden in der Türkei. Inzwischen haben sie sich zusammengefunden, gründen Vereine und Zusammenschlüsse, trinken Abends ein Bier zusammen. Klar, Klaus hat auch türkische Bekannte, das lässt sich kaum verhindern in der Türkei. Aber auch wenn er mit ihnen lacht und Raki trinkt, sind sie doch anders. Weder reflektieren sie über die harte Realität der Gastarbeiter*innen – Doppelschichten, Sprachbarrieren, die unangenehme Wohnsituation – noch können sie sie vollkommen verstehen. Weil er anders ist. Er ist kein Türke. Und die deutsche Kultur ist irrelevant. Und überhaupt ist es anstrengend, immer türkisch reden zu müssen. Sie würden niemals verstehen, dass..
…ohne Sprache zu sein, ist ohne Leben. Ohne atmen.
Ein wichtiger Punkt des Stückes ist die Sprachbarriere, die von Anfang des Stückes bis zum Ende thematisiert wird. In Istanbul angekommen, versteht Klaus nur in Bruchstücken, wo er in Istanbul wohnen und arbeiten muss. Um nicht in eine vollkommen Einsamkeit zu versinken, begrüßt ihn ein Dolmetscher. Für die Zuschauer*innen und für Klaus wird sofort die falsche Übersetzung des Dolmetschers deutlich. Denn Klaus soll nicht auf Dates mit türkischen Frauen gehen, sondern das tun, wofür er gekommen ist – arbeiten.
Die Verzweiflung zieht sich weiter beim Kauf von Kaffee. Klaus spricht kein türkisch und die Arbeiter*innen im Café kein Deutsch. Statt Kaffee wird Klaus Çay verkauft. Die Sprachdifferenzen und die automatische Verlorenheit dadurch werden durch den Verkauf von Kaffee thematisiert. Eigentlich sollte der Kaffee etwas Familiäres in einem fremden Land mit fremden Traditionen sein. Dass Klaus Çay stattdessen mitnimmt, steht metaphorisch für die eigene verlorene Kultur und die erzwungene Anpassung an neue Traditionen.
“Es handele sich nur um temporäre Arbeitskräfte, die nur solange bestehen blieben, solange akuter Arbeitermängel bestände.”
Das Leben von Klaus in der Türkei ist geprägt von Zerrissenheit. Zwischen der Realität dort gefangen zu sein und dem Traum zurück nach Bonn zu ziehen. In dem Haus leben, für das er sein Leben lang gespart hat. Zurück zum Rhein, an den Fluss, mit dem er aufgewachsen ist. Ins Stadion, um seiner Fußballmannschaft zu zujubeln.
Sein Sohn Ismet spiegelt die andere Seite der Medaille wider. Er ist in Istanbul geboren und aufgewachsen. Er spricht besser türkisch als deutsch und er will nicht in eine Stadt ziehen, in der er nur zwei mal zu Besuch war. Klaus Sohn hat eine eigene Identität entwickelt, die beide Kulturen in ihm vereinen – die deutsche Kultur im eigenen Haus und die türkische Kultur außerhalb. Die beiden Identitäten innerhalb der Familie lassen eine Kluft entstehen, die wohl kaum jemand verstehen kann, als Migrakinder es tun.
Realität vieler Gastarbeiter*innen in Deutschland
Das Stück erzählt eine fiktive Geschichte in einer alternativen Vergangenheit, die wohl kaum weniger die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei widerspiegeln kann.
Das Stück dreht die Realität komplett um, aber das Szenario ist kein Fremdkörper, vor allem nicht auf deutschem Boden. 1968 kamen die ersten Gastarbeiter*innen nach Deutschland, um in den verschiedensten Fabriken zu arbeiten. Das Stück thematisiert die Hoffnungen, Leiden, Arbeit, Realität und die dazugehörigen Probleme, die die Gastarbeiter*innen in den 70er Jahren erleben mussten. Vom Zurücklassen der Familie bis hin zur inhumanen medizinischen Untersuchung, bevor ihnen die Papiere für das Arbeiten und den Aufenthalt gegeben wurden. All dies wird vor allem durch Lieder der türkischen Arabesk-Sängerin Sezen Aksu verdeutlicht. Das Stück setzte Fokuspunkte an die wichtigsten Stellen der deutsch-türkischen Geschichte und unterbindet vor allem nochmal die Gefühlslage eines Individuums. Dadurch wird mehr Nähe und Identität gestiftet und Klaus wird mehr als nur das „kleine Rad in einem Betrieb“ charakterisiert – sowie die Millionen von Gastrabeiter*innen damals.
Die innersten Gefühle und unausgesprochenen Wünsche der Figuren können bei den Zuschauer*innen durch diese Lieder ihre Bedeutung finden. Die Schauspieler*innen unterbinden die Message der Lieder mit ihren einfühlsamen Stimmen. Diese gewinnen mehr an Bedeutung durch die Interpretation der Lieder in der Originalsprache – türkisch. Obwohl die Schauspieler*innen fast nur aus nicht Türkisch-sprachler*innen besteht, haben sie die Lieder mit der vollkommen Emotion auf türkisch gelernt und die Zuschauer*innen in ihren Bann gezogen.
Aber vor allem an den Schauspieler*innen, die die Türk*innen spielen, hätte die Produktion echte türkisch-deutsche Schauspieler*innen casten können. Diese Story thematisiert primär die Realität der deutsch-türkischen Gastarbeiter*innen, aber es spielt nur eine Schauspielerin mit türkischen Wurzeln im gesamten Stück mit. In einer Gegenwart, in der systematisch deutsch-türkische Mitbürger*innen nur durch den Namen ausgeschlossen werden, hätte vor allem dieses Stück einer Minderheit in Deutschland eine Chance für eine Rolle geben können – auch wenn es eine kleine gewesen wäre.
In Zusammenarbeit mit Seray Arduç.


