Diese Kolumne gibt die subjektive Meinung unseres Autors wieder
Teil 1: Meinungsfreiheit ungleich Kritikfreiheit
„Wir sind Rechtsstaat“ heißt es seit Ende September 2019 in Werbespots und auf Plakaten. Dahinter steckt eine Kampagne des Bundesjustizministeriums. Das Ziel: den Rechtsstaat „sichtbarer und verständlicher“ machen. Diese Kampagne kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.
Denn wie steht es eigentlich um unseren Rechtsstaat, 70 Jahre nach Einführung des Grundgesetzes? Zunächst sollten wir festhalten, dass der Rechtsstaat eines der fünf sogenannten „Strukturprinzipien“ unserer Verfassung ist – verankert in Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Aus diesem Rechtsstaatprinzip folgt zum Beispiel die Bindung aller drei Staatsgewalten an die Grundrechte, die die Menschen vor Übergriffen durch den Staat schützen sollen. Dann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als oberste Maxime allen staatlichen Handelns. Oder der Grundsatz, dass Gesetze nicht mit Wirkung für die Vergangenheit verabschiedet werden dürfen. Oder der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, vereinfacht: „kein staatliches Handeln ohne gesetzliche Grundlage“. Oder… Diese Aufzählung ließe sich noch eine Weile fortsetzen. In der Theorie regelt dieses Rechtsstaatsprinzip also ziemlich viele Dinge. Dinge, die wir im Alltag oft als selbstverständlich wahrnehmen. In den letzten Monaten drängt sich mir aber mehr und mehr die Frage auf, ob genau diese vermeintliche Selbstverständlichkeit möglicherweise zu einem der größten Probleme unseres Rechtsstaates werden könnte. Denn jede noch so gute Verfassung braucht immer auch eine Bevölkerung, die diese Verfassung erstens kennt und zweitens auch anerkennt und danach lebt. Andernfalls kann auch die beste Verfassung einen Staat nicht tragen.
In wie weit schützt die Meinungsfreiheit ?
Beginnen wir mit einem der wichtigsten Grundrechte überhaupt: die Meinungsfreiheit, gewährleistet in Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Dort heißt es: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten . Wie alle anderen Grundrechte schützt auch die Meinungsfreiheit erst einmal den einzelnen Menschen vor staatlichen Eingriffen. Wie alle anderen Grundrechte gilt auch die Meinungsfreiheit damit also gerade nicht zwischen Bürger_innen untereinander – jedenfalls nicht direkt. Für detaillierte verfassungsrechtliche Ausführungen ist an dieser Stelle aber leider kein Platz: Wer mehr dazu wissen will, sucht im Internet nach dem Stichwort „mittelbare Drittwirkung von Grundrechten“. Zurück zur Meinungsfreiheit: wenn die Meinungsfreiheit mich als Bürger nicht vor Eingriffen anderer Bürger_innen schützt, können mich andere Bürger_innen auch nicht in meiner Meinungsfreiheit verletzen. So weit, so logisch.
Meinungsfreiheit als Druckmittel?
Was aber meinen dann die AfD und andere Gruppierungen, wenn sie behaupten, dass man angeblich nicht mehr sagen darf, was man denkt? Mir jedenfalls ist nicht bekannt, dass beispielsweise Björn Höcke von staatlicher Seite Redeverbote erhalten hätte. Eine ernsthafte Bedrohung der Meinungsfreiheit durch den Staat kann hier also nicht gemeint sein. Im Gegenteil: die Tatsache, dass das AfD-Spitzenpersonal derartige Aussagen regelmäßig öffentlich tätigen kann, ist doch geradezu ein Paradebeispiel für gelebte Meinungsfreiheit. Die von Höcke und Co. heraufbeschworenen Redeverbote sind also in Wahrheit nichts anderes als billiger Populismus. Und trotzdem: laut einer Allensbach-Umfrage von Mai 2019 haben auch jenseits der AfD mittlerweile rund zwei Drittel der deutschen Bevölkerung das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr ohne Konsequenzen äußern zu können. Wenn diese Konsequenzen aber offensichtlich nicht von staatlicher Seite kommen, müssen wohl Konsequenzen aus der Zivilgesellschaft gemeint sein. Konsequenzen, wie wir sie erst kürzlich am Beispiel von Bernd Lucke beobachten konnten. Wir erinnern uns: der AfD-Gründer kehrte Anfang Oktober 2019 nach mehreren Jahren in der Politik zurück in seinen alten Beruf als Wirtschaftsprofessor an der Universität Hamburg. Bereits seine Antrittsvorlesung wurde dort aber von Studierenden und anderen Aktivist_innen blockiert: nicht nur mit Bannern und Plakaten, sondern auch mit wüsten und lautstarken Beschimpfungen (u.a. als „Nazischwein“). Die Vorlesung konnte nicht stattfinden. Eine Woche später stürmten erneut mehrere Protestierende den Hörsaal, wieder musste die Vorlesung abgebrochen werden. Die Folge: Beim dritten Versuch, am 30. Oktober, sichert auf Wunsch der Universitätsleitung eine Polizeihundertschaft den Hörsaal ab. Studierende hätten Angst, technisches Personal verweigere Arbeitsaufträge im Umfeld von Luckes Veranstaltungen – so die Universitätsleitung gegenüber dem SPIEGEL 1 . Klar, Bernd Lucke hat die AfD mitbegründet, zu dieser Zeit selbst extrem fragwürdige Aussagen getätigt und sich deutlich zu spät von Menschen wie Frauke Petry und Alexander Gauland distanziert. Aber macht ihn das wirklich zu einem „Nazischwein“?
Lucke hat kein Recht auf Kritikfreiheit
Unbestritten, auch ein Bernd Lucke hat kein Recht auf Kritikfreiheit. Natürlich kann, darf und sollte man ihn für seine Rolle bei der Gründung und beim Aufbau der AfD kritisieren. Aber: sachlich, gewaltfrei, im demokratischen Rahmen. Denn auch ein Bernd Lucke hat Grundrechte. Als Professor insbesondere das Recht der Wissenschaftsfreiheit, Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes. Dazu gehört auch das Recht auf die ordnungsgemäße Durchführung seiner Vorlesungen, das der Staat ihm gewährleisten und notfalls gegen die Aktivist_innen durchsetzen muss. Außerdem hat auch ein Bernd Lucke das Recht, auf Kritik mit Argumenten zu antworten. Wenn Aktivist_innen Lucke aber kompromisslos niederbrüllen, bewusst den Vorlesungsbetrieb behindern und von vornherein jeglichen Diskurs unterbinden, dann hat das nichts mehr mit demokratischer Debattenkultur zu tun. Und ja, natürlich ist es mehr als unangebracht, wenn Bernd Lucke sich dann in Gabor Steingarts „Morning Briefing“-Podcast vom 17. Oktober ernsthaft mit den Opfern des NS-Regimes vergleicht („Früher hat man in Deutschland Judensau gerufen, jetzt heißt es Nazischwein“) und dafür von Steingart nicht einmal Widerspruch erhält.
Proteste sind undemokratisch
Dennoch muss man die Proteste gegen Lucke in dieser Form als das benennen, was sie sind: undemokratisch. Wer sich das zu sagen traut, muss inzwischen aber selbst mit massivem Gegenwind rechnen. Beispiel: Stefan Kruecken, Chef des Verlags Ankerherz. Eigentlich positionieren sich der Verlag und auch Kruecken selbst seit Jahren entschieden gegen die AfD und gegen rechte Hetze. Im Fall Lucke aber bezog Stefan Kruecken über den Facebook-Account von Ankerherz klar Stellung gegen die Proteste in Hamburg. Dabei betont er, es gehe ihm keinesfalls um die Verteidigung von Luckes Position, sondern einzig und allein um dessen demokratisch verbrieftes Recht auf freie Meinungsäußerung. Die Reaktionen darauf sind erschreckend: „Nazi-Kuschler“ wird Kruecken in den Kommentaren genannt, „AfD-Sympathisant“, „Mitte-Extremist“. Mitte-Extremist? Ja, richtig gelesen. Für Teile des politischen Spektrums ist es wohl mittlerweile schon extremistisch, wenn man sich für die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung einsetzt – und zwar jenseits der politischen Differenzen. Um das klar zu sagen: man muss Bernd Lucke und seine Positionen nicht gut finden, ich persönlich tue das auch nicht. Als Demokrat_in muss man sich trotzdem dafür einsetzen, dass auch ein Bernd Lucke gleichberechtigt am demokratischen Diskurs teilnehmen darf.
Hamburg als Angriff auf Meinungsvielfalt
Stellen wir das nochmal klar: was in Hamburg passiert ist, war kein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Daraus dann eine „linke Meinungsdiktatur“ abzuleiten, wie es zum Beispiel die AfD und neuerdings auch CSU-Influencer Armin Petschner („CSYou-Armin“) gerne tun, ist also erstens falsch und zweitens brandgefährlich. Was in Hamburg passiert ist, war aber sehr wohl ein Angriff auf die Meinungsvielfalt. Denn ich überlege mir natürlich dreimal, ob ich mich für die Demokratie einsetze, wenn ich dafür mit öffentlichen Anfeindungen und Beschimpfungen von links rechnen muss.
Teil 2: Demokratie? Nein danke
„ Denn wie steht es eigentlich um unseren Rechtsstaat, 70 Jahre nach Einführung des Grundgesetzes? Zunächst sollten wir festhalten, dass der Rechtsstaat eines der fünf sogenannten „Strukturprinzipien“ unserer Verfassung ist – verankert in Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Aus diesem Rechtsstaatprinzip folgt zum Beispiel die Bindung aller drei Staatsgewalten an die Grundrechte, die die Menschen vor Übergriffen durch den Staat schützen sollen. Dann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als oberste Maxime allen staatlichen Handelns. Oder der Grundsatz, dass Gesetze nicht mit Wirkung für die Vergangenheit verabschiedet werden dürfen. Oder der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, vereinfacht: „kein staatliches Handeln ohne gesetzliche Grundlage“. Oder… Diese Aufzählung ließe sich noch eine Weile fortsetzen. In der Theorie regelt dieses Rechtsstaatsprinzip also ziemlich viele Dinge. Dinge, die wir im Alltag oft als selbstverständlich wahrnehmen. In den letzten Monaten drängt sich mir aber mehr und mehr die Frage auf, ob genau diese vermeintliche Selbstverständlichkeit möglicherweise zu einem der größten Probleme unseres Rechtsstaates werden könnte. Denn jede noch so gute Verfassung braucht immer auch eine Bevölkerung, die diese Verfassung erstens kennt und zweitens auch anerkennt und danach lebt. Andernfalls kann auch die beste Verfassung einen Staat nicht tragen.
Die parlamentarische Demokratie
Im ersten Teil dieser Kolumne schrieb ich, die Meinungsfreiheit sei eines der zentralsten Grundrechte überhaupt. Fachsprachlich würde man von „demokratiekonstituierend“ sprechen: keine ordentliche Demokratie ohne freie Meinungsäußerung – und zwar rechtlich wie faktisch. Und damit sind wir beim nächsten Punkt: die parlamentarische Demokratie. Sie ist zwar genau genommen kein Bestandteil des Rechtsstaats, sondern ein eigenes Verfassungsprinzip und als solches in Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 2 des Grundgesetzes festgehalten. Aber selbstverständlich ist das Demokratieprinzip mit dem Rechtsstaat eng verwoben.
Parlamentarische Demokratie – gewollte Demokratie?
Doch unser gegenwärtiges System der parlamentarischen Demokratie scheint nicht mehr uneingeschränkt für Begeisterung zu sorgen. So fordert beispielsweise AfD-Faschist Björn Höcke nicht nur die Absetzung von Angela Merkel selbst, sondern auch ein Ende des „Merkel-Systems“. Was kann er damit meinen, wenn nicht einen radikalen Wechsel unseres gegenwärtigen politischen Systems? Dazu würde auch passen, dass wir nach Meinung einiger AfD-Politiker_innen ja angeblich in einer „Kanzlerdiktatur“ leben, für deren Abschaffung sich einzig und allein die AfD einsetze. Aber genug von diesem Unsinn. Denn es gibt auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums Unzufriedenheit mit unserer Demokratie, zum Beispiel bei der Klimaschutzbewegung „Extinction Rebellion“. Zur Erinnerung: das ist jene Gruppe, die im Herbst mit großflächigen Straßenblockaden in Berlin auf sich aufmerksam gemacht hat. Jene Gruppe, deren Mitbegründer Roger Hallam am 13. September im Interview mit dem SPIEGEL sagte, das Thema Klimaschutz sei größer als die Demokratie. Mehr noch: „Wenn eine Gesellschaft so unmoralisch handelt, wird Demokratie irrelevant“, so Hallam wörtlich. Ähnlich argumentiert auch Carola Rackete, bekannt geworden durch ihre Verhaftung in Italien. Auch sie ist inzwischen bei Extinction Rebellion aktiv und hat kürzlich ein Buch veröffentlicht. Darin fordert sie nichts weniger als einen „radikalen Systemwandel“, der die Gesellschaft grundlegend verändern solle. Sehr offen liebäugelt Rackete dabei auch mit einer sozialistisch geprägten Gesellschaft.
Sozialismus als Alternative
Ja, wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun. Ja, mit Sicherheit ist der Kapitalismus auch eine der Hauptursachen für den Klimawandel – ebenso wie für viele andere Probleme des 21.Jahrhunderts. Und ja, mit ebenso großer Sicherheit kann der Kapitalismus in seiner jetzigen Form nicht mehr lange funktionieren. Aber Sozialismus, ernsthaft? Sollten wir nach den Erfahrungen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts nicht langsam verstanden haben, dass der Sozialismus keine sinnvolle Alternative zum Kapitalismus darstellt? Dass es eine solche Alternative leider bis heute nicht gibt? Natürlich können und dürfen Carola Rackete und andere über den Sozialismus nachdenken und diese Gedanken auch öffentlich äußern. Allerdings dürfte die Umsetzung dieser Gedanken mit unserem Grundgesetz in der aktuellen Fassung nur schwer zu machen sein. Zwar enthält sich das Grundgesetz zur Frage der Wirtschaftsordnung und ermöglicht in Artikel 15 sogar ausdrücklich Enteignungen und Verstaatlichungen. Allerdings: Artikel 14 Absatz 3 erlaubt solche Enteignungen nur „zum Wohle der Allgemeinheit“ und bei angemessener Entschädigung der Enteigneten.
Systemwechsel (k)eine Wahl
Ein Systemwechsel zum Sozialismus ginge also nur, wenn zuvor das Grundgesetz geändert wird. Denn bis auf Weiteres gilt in Deutschland noch die parlamentarische Demokratie und damit auch das Mehrheitsprinzip. Und Artikel 79 Absatz 2 des Grundgesetzes verlangt für eine Verfassungsänderung nicht weniger als eine zweidrittel Mehrheit im Bundestag und noch einmal dieselbe Mehrheit im Bundesrat. Diese Hürde ist zwar nicht unüberwindbar, erfordert aber wohl einiges an politischer Überzeugungsarbeit. Die Abschaffung der Demokratie wiederum ließe sich gar nicht so einfach beschließen. Zwar können Bundestag und Bundesrat, wie gerade dargelegt, prinzipiell auch das Grundgesetz ändern. Allerdings verbietet es die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ in Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, die in Artikel 1 und Artikel 20 genannten Verfassungsprinzipien zu ändern. Es darf zwar sehr wohl die konkrete Formulierung dieser Artikel geändert werden, nicht aber die dahinter stehenden Grundsätze. Neben der Achtung der Menschenwürde ist damit also auch das Demokratieprinzip für die „Ewigkeit“ geschützt – zumindest, solange in Deutschland das Grundgesetz gilt.
Demokratie ist nicht abschaffbar
Der einzige Weg, die Demokratie doch noch abzuschaffen, besteht daher nur in der Verabschiedung einer komplett neuen Verfassung durch das gesamte deutsche Volk. Diese Möglichkeit sieht Artikel 146 des Grundgesetzes ausdrücklich vor. Allerdings dürfte diese Option eher theoretischer Natur sein: angesichts der extrem polarisierten Gesellschaft im Deutschland des Jahres 2019 erscheint es doch höchst unrealistisch, dass sich das gesamte deutsche Volk auf eine neue Verfassung verständigt. Also, liebe Höckes und Racketes dieser Gesellschaft: setzt euch gerne für einen Systemwandel ein, entwickelt neue Ideen jenseits der ausgetretenen Mainstream-Pfade, denkt einfach mal richtig out of the box. Eine Bedingung gibt es aber: diese Ideen setzt ihr dann bitte nicht im Wege einer Revolution mit einigen wenigen Anhänger_innen durch, notfalls auch gewaltsam. Sondern ihr organisiert euch dafür politische Mehrheiten im Volk und in den Parlamenten – so, wie es in diesem Land seit 70 Jahren gute demokratische Tradition ist.
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