You are currently viewing Ich habe 7 Monate keinen Alkohol getrunken – Eine ernüchternde Erfahrung
Quelle: Pixabay

Ich habe 7 Monate keinen Alkohol getrunken – Eine ernüchternde Erfahrung

Lesezeit: 4 Minuten

Wer heutzutage, gerade in einem studentischen Umfeld, keinen Alkohol trinkt ist ein Sonderfall. Ich habe das Experiment gewagt und mein soziales Umfeld reichlich verwirrt. Aber auch mir ist diese Umstellung nicht ganz leichtgefallen.

Lesezeit: 5 Minuten

“Echt gar nichts?”

“Nein, wirklich nicht.” 

“Auch kein Bier?” 

“Auch kein Bier.” 

“Ach komm einen Schluck!” 

Samstagabend. Hausparty. Eine Konversation, wie ich sie dieses Jahr schon mehrmals hatte. Als ich beschloss 2019 keinen Alkohol zu trinken hatte ich es mir härter vorgestellt beziehungsweise auch nicht. Jedenfalls anders. 

Wie alles Begann

Januar 2019. Durch gefährliches Halbwissen habe ich erfahren, dass die Leber etwa vier Wochen braucht um sich zu regenerieren und einmal generalüberholt zu werden. Daher entschließe ich mich genau dies umzusetzen. 

Dazu ist folgendes zu sagen: Ich war nie der Heavy-Trinker. Abgesehen von einigen Geburtstagen, Abi- oder Erstifahrt sind mir Filmrisse und verkaterte Morgen nahezu unbekannt. Meine Grenzen habe ich als Teenager ausgetestet und halte sie seitdem meistens ein. Trotzdem kann ich mich nicht erinnern seit der Volljährigkeit einen Monat komplett trocken verbracht zu haben. 

Nachdem ich den Januar ohne größere Probleme durchgehalten habe, beschließe ich aus einer Laune heraus, mein kleines Projekt auf das ganze Jahr auszuweiten. Nicht, dass ich gesundheitliche Probleme hätte oder in Gefahr stünde Alkoholiker zu werden. Mich reizt lediglich die Erfahrung. Und damit ist der Entschluss gefasst. 2019 wird Ethanolfrei. 

Partys

So viel zur Vorgeschichte. Zurück auf die Party. Dort bin ich wie ein Fremdkörper in der Blutbahn, der vom Immunsystem erkannt und von den “Normalen Trinkern” in mehreren Schritten bekämpft werden muss. Nachdem Phase 1 “Vehementes Anbieten” abgeschlossen ist, folgt direkt Phase 2. Ich nenne sie “Die Therapiesitzung”. Warum ich nichts tränke, ob ich Probleme hätte, wen ich heute noch nach Hause fahre, ob ich mir nicht komisch vorkomme, seit wann ich nichts tränke, ob das in meinem Glas tatsächlich nur Wasser sei wollen sie wissen. Je ausführlicher ich erkläre, dass es keinen Grund gibt, außer dass ich das so entschieden habe, desto mehr Unverständnis ist in den Gesichtern abzulesen. Doch irgendwann folgt die Letzte Phase: “Akzeptanz”. 

Trotzdem: Auf Partys fühle ich mich wie ein Veganer im Wiesenhof-Outletstore. 

“Was? Gar kein Fleisch? Aber Hühnchen isst du schon noch oder?” 

Keine Gefahr

Als ich aufhörte Alkohol zu trinken dachte ich, irgendwann käme der Punkt, an dem mich die Lust überwältigen würde. Ein “Ach scheiß drauf”-Moment, gefolgt von drei Tequila Shots und dem jähen Ende meines Selbstversuches. Obwohl ich ein kleines Sortiment meiner favorisierten Alkoholika gut sichtbar in meinem Zimmer stehen habe, überkam mich nie dieses starke Verlangen, das ich erwartet hatte. Klar, ab und an wäre ein Glas guten Alkohols schon nett oder ein kleiner Trunk um besser einzuschlafen (ja, ich weiß das soll man nicht tun). Schade, aber kein Drama. 

Du bist der Spießer

Bei weitem unterschätzt habe ich hingegen den sozialen Druck. Das Gefühl sich für das Nicht-Trinken rechtfertigen zu müssen. Die „Ach komm heute trinkst du mal”-Sprüche. Das ist um einiges nerviger als die reine Lust auf die Substanz. Und ja “ich kann auch ohne Alkohol Spaß haben”. Aber: ich würde lügen, würde ich behaupten Partys wären ohne etwas zu trinken genauso toll. Sie sind es nicht. Während alle um dich herum immer lustiger, tollpatschiger und dümmer werden, sitzt du mit deinem Glas Wasser auf der Couch und würdest jetzt viel lieber schlafen gehen. Du bist der Spießer auf der Party. 

Die Lizenz zum Löten

Alkohol ist wie ein Freifahrtschein fürs Dummsein. Du tanzt wie ein Opossum mit ADHS? Egal, du bist ja betrunken. Du machst unterirdische Wortwitze? Egal, betrunken! Du landest mit wildfremden Leuten auf der Toilette? Betrunken!

Das Ding ist ja auch, dass du dazu nicht einmal wirklich betrunken sein musst. Doch wer einmal an der Sekt-Mate (Empfehlung eines Freundes!) genippt hat, hat die Lizenz  alle Hemmungen fallen und den Urinstinkten freien Lauf zu lassen. Es geht um die soziale Komponente. Der biochemische Effekt des Alkohols ist nur zweitrangig.

Das alles hilft dir aber wenig, wenn du wie Forest Gump alleine auf deinem Platz sitzt und desinteressierten Leuten aus deinem Leben erzählst. Nur dass du noch nicht einmal die Pralinen essen kannst, weil da ja auch Alkohol drin sein könnte. Man weiß ja nie was man bekommt. 

Verkehrte Welt

Das ganze Ausmaß dieser abstrusen Situation ergibt sich ja erst, wenn man kurz darüber nachdenkt, dass man sich für das gesündere und vernünftigere Verhalten rechtfertigen muss. Mich will ja niemand vom Rauchen abhalten oder zum Sport bewegen. Nein, ich soll etwas tun, dass meinem Körper nachweislich schadet. Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, warum wir uns so verhalten (ich bin ja nicht anders, wenn ich trinke).

Fühlen wir uns schlecht, wenn uns jemand direkt vor Augen führt, dass man eigentlich gerade etwas Ungesundes tut? Sind wir innerlich davon tief überzeugt, dass man ohne Alkohol nicht feiern kann? Oder ist es einfach eine Lustige Herausforderung Leute dazu zu bringen sich zu betrinken? Womöglich eine Mischung aus diesen und vielen anderen Faktoren. Aber das Ergebnis bleibt das gleiche: Ich werde von guten Freunden gefragt und von weniger guten Freunden gedrängt doch etwas alkoholisches zu mir zu nehmen. 

Nein heißt Nein

Vermutlich klingt das alles sehr deprimierend; und ist es zeitweise auch. Dafür habe ich einiges gelernt. Einfach mal “Nein” zu sagen zum Beispiel. Das ist manchmal schwieriger als man denkt. Besonders wenn mein keinen besseren Grund als “ich will einfach nicht” hat. Doch einen besseren Grund braucht man auch nicht. Auch keine weite Begründung oder Rechtfertigung. Und bevor man von Anderen verlangen kann dies zu akzeptieren, muss man das vielleicht selbst erst einmal tun. Zwar hat der Verzicht auch positive gesundheitliche Auswirkungen (besseres Hautbild, gesünderer Schlaf und viele Dinge, die man wohl erst im Alter merkt) aber das ist hierfür irrelevant. Ich habe einen Entschluss gefasst und meine Entscheidung ist Grund genug.

Liedl, lohnt sich das?

Nennenswerte neue Erkenntnisse werde ich in den verbleibenden fünf Monaten wohl kaum noch sammeln, was auch ein Grund ist, weshalb ich diesen Artikel schon jetzt schreibe. Doch ich möchte das durchziehen. Ob es sich lohnt? Ich weiß nicht. Einfach mal ein paar Wochen nichts zu trinken ist sicherlich keine schlechte Idee und leicht umzusetzen. Hausarzt und vor allem Leber werden es Einem danken. Ein ganzes Jahr ist dagegen schon etwas anstrengender, aber dennoch machbar. Für Neujahr 2020 habe ich jedenfalls schon etliche Leute, die mit mir anstoßen wollen. In diesem Sinne: Prost! 

Übrigens gibt es ein sehr lustiges und gleichzeitig sehr wahres Video mit Phil Laude zu genau diesem Thema:

Christoph Liedel

Leitung Online-Redaktion