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Anderthalbseiten über schweres Gepäck

Lesezeit: 2 Minuten

Für die meisten bedeutet ein Erasmusaufenthalt zwei Dinge: Reisen und neue Erfahrungen. Für viele Studierende mit Migrationshintergrund, mich eingeschlossen, bleibt es jedoch nie dabei: Wie verstaut man familiäre Erwartungen, Finanzen und neue Chancen, ohne dass der Koffer platzt?


Als ich am Anfang des Jahres die Zusage für einen Aufenthalt in Frankreich erhalte, sitze ich mit gemischten Gefühlen vor der Mail. Während ich von der einen Seite Glückwünsche höre, öffnet sich vor meinem inneren Auge ein Taschenrechner: Wie viele Schichten muss ich schieben, um die Miete in einem halben Jahr zu decken? Wie erkläre ich meinen Eltern, dass es keine Zeitverschwendung ist? Bin ich egoistisch, wenn ich alleine gehe?

Für mich war Erasmus von Anfang an kein Selbstläufer, sondern ein Tagtraum, der schneller Realität wurde, als ich “Auslands-BAföG” buchstabieren konnte. 

Ich packe meinen Koffer und nehme mit…

… Socken, Kochlöffel, Aufenthaltsbescheinigung für die Kreisverwaltung Mainz-Bingen, Sonnencreme, finanzielle Ängste, Gebetskerzen und ungefähr 30 Sprachnachrichten meiner Mutter. 

Zwar fehlt es an aussagekräftigen Statistiken bezüglich Studierenden mit Migrationshintergrund, die den Schritt ins Ausland wagen, aber die Ersti-Woche in Aix-en-Provence zeigt mir: Von 40 deutschen Studierenden (wirklich, jede*r Zweite hier ist deutsch) kenne ich bislang drei mit Migrationshintergrund. Natürlich haben wir alle die gleiche Aufregung und die gleiche Sprache, die uns am Ende des Tages verbindet und aufbaut, wenn man zum dritten Mal vergeblich nach einem Nasenspray in der Pharmacie sucht. Dennoch scheint es, als würde uns eine Glaskuppel namens “Woher kommst du eigentlich?” früher oder später trennen. 

Während die anderen von den Besuchen ihrer Familie berichten, überlege ich, wie ich Mama und Papa zu einer Reise überreden könnte. Vielleicht wenn ich jedes Ticket übersetze, und einen Teil meiner Förderung abgebe; oder wenn ich ihnen eine PowerPoint-Präsentation erstelle, wieso Urlaub nicht nur Richtung Heimatland gehen muss.

Lücken füllen, Brücken bauen 

Es ist für jeden Menschen ein Privileg, im Ausland studieren zu dürfen, ganz gleich welcher Hintergrund. Aber für Menschen, die mit einer Tasche in der einen und einem kleinen Kind an der anderen Hand nach Deutschland gekommen sind, um ein besseres Leben zu finden, kann so ein Wunsch Fragezeichen aufwerfen. Wieso sollte man ins Ausland, wenn nicht aus Not und Arbeitslosigkeit? 

Um mir und der Generation nach mir die Welt ein Stück weit zu öffnen. Aber natürlich auch, um die Erfahrung meiner Eltern zu reproduzieren. Ich bin nicht aus Not hier, aber auch ich kann jetzt ein bisschen besser verstehen, wie es ist, die Sprache nicht perfekt zu beherrschen, sich nach einigen Sätzen zu schämen und lieber mit Menschen Zeit zu verbringen, die meine Erfahrungen teilen, weil die Einheimischen mich einschüchtern. Dinge, für die ich mich als Kind bei meinen Eltern geschämt habe, entpuppen sich plötzlich als menschlich und logisch. 

Im Ausland endlich deutsch sein 

Hier in Frankreich konnte ich endlich Frieden schließen mit der Tatsache, dass wir als Migras genauso deutsch sein dürfen, wie alle anderen auch. Wenn mir jemand in Deutschland die berühmte Frage stellt, sage ich, ich bin in Litauen geboren; es ist kompliziert, ich bin nämlich eigentlich russo-georgisch, ach und die Sowjetunion… In Frankreich spiele ich diesen Monolog zwar automatisch in meinem Kopf ab, merke aber, dass die Antwort „Ich bin aus Deutschland. Wir sind echt viele Deutsche hier, oder?” völlig ausreicht, um mich vorzustellen. Das hat mir ein neues Gefühl von Heimat gegeben: Ich muss mich nicht für eine entscheiden, sondern kann in allen Ländern zuhause sein. 

Das heißt nicht, dass ich nicht am Ende der ersten Woche wild zum nächsten ostereuropäischen Laden gerannt bin, um mir eine Packung Pelmeni und Sushki zu kaufen. Denn das hat leider nicht mehr in den Koffer gepasst.

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