Eine Andersartigkeit kann auf verschiedene Arten entstehen. In Deutschland merkt man diese, wenn man selbst nicht zum Status Quo gehört. Niemand sonst scheint sie wahrzunehmen, außer mir und dieser Institution, die sich Universität nennt.
Inzwischen sage ich auch Kommilitonen*innen statt Freund*innen oder Mitstudierenden. Ich rede über Module, Dozierende und nostalgiere über das Immatrikulationsverfahren, das ich mir selbst beibringen musste. Ich beschwere mich über das Bafög-Amt und dass ich im ersten Semester mich nur über Wasser halten konnte, weil die wöchentlichen 30€ meiner Eltern meinen Wocheneinkauf bezahlen konnten. Jedes Wochenende wurde ich Anwohnerin der RE5 nach Düsseldorf, dem RE2 nach Osnabrück und der RB58 nach Bremen. Hier stieg ich aber in Vechta aus. Diese Wochenenden sollten mit neuen Freund*innen, abendlichen Klängen der verschwindenden Sonne und einem Kaffee am Sonntag vergehen. Aber der Abschied vor dem ersten Semester war härter als erwartet. Ich wusste nicht, was Kommiliton*innen sind. Welche Module ich wann wählen sollte. Und kurz vor der ersten Klausur wollten die Stimmen in meinem Kopf, dass ich zurück in die kleine niedersächsische Stadt verschwinde. Bonn war zu groß. Bonn war zu viel. Bonn war zu studentisch. Bonn war anders. Eine vor mir enthaltene Andersartigkeit, die andere zu kennen scheinen.
Diffuse Wahrnehmungen eines neuen Menschen
Nur 10% aller Kinder einer Arbeiterfamilie haben das Privileg, diese Andersartigkeit kennenzulernen. Ich gehöre zu diesen 10%. Ich bin die privilegierte Erststudentin in meiner Familie, die sich eine Andersartigkeit zu eigen gemacht hat. Ein Wirr von Floskeln zerzaust meine Ohren. Wie erstelle ich den Stundenplan? Kann mir das einer erklären? Ich dachte, wir wären alle gleich hier? Oh, von meiner Sorte sind hier nicht viele. Das habe ich vergessen. In Deutschland haben nämlich nur 20% aller Studierenden einen Migrationshintergrund. Haben Sie auch ein Problem mit diesen Uni-Wörtern? Oder sind diese 20% auch anders als ich? Ich frage mich, wie viele Eltern auf Lehrer*innen in der Grundschule vertrauen und ihr Kind auf die Realschule schicken statt auf ein Gymnasium.
Dichotomische Züge einer Persönlichkeit
Ich habe zwei Identitäten. Wenn ich in den Seminaren sitze und diese fremde Sprache der Akademiker*innen nach drei Jahren nicht mehr so fremd erscheint. Wenn ich doch Lust auf einen türkischen Kaffee habe, statt einem Capuccino in einem Studi-Café. Trotzdem frage ich mich, ob ich die Farbe Weiß in einem lila Gänseblümchenfeld annehme. Reicht es, die Wörter und Uni-Floskeln zu kennen? Werde ich dann trotzdem getrennt und in eine Schublade mit der Beschriftung 10% oder vielleicht 20% gesteckt? Für mich erstellen sie bestimmt eine ganz besondere Schublade, wo beide Zahlen zu finden sind.
Eine Schublade, in der meine Eltern mir irgendwann nicht mehr mit den Hausaufgaben helfen konnten. Das Bafög reicht eigentlich auch nicht und zwingt mich, neben dem Vollzeitstudium noch zu arbeiten. Werde ich dann nachts zum Lernen kommen? Ich dachte, ich bin hier, nur um zu lernen. Warum ist es in dieser Schublade so schwierig, den sozialen Aufstieg zu bewältigen?
Die andauernde Geschichte der Deutsch-Türken
Ab den 70er Jahren begrüßte Deutschland viele Gastarbeiter*innen aus u.a. Italien und der Türkei. Wie das Substantiv schon innehat, sollten sie auch wieder zurück. Doch die Gastarbeiter*innen ließen sich in der Bundesrepublik nieder, holten ihre Familie aus der Türkei und bildeten eine kleine Parallelgesellschaft. Heute sind die zweite, dritte und vierte Generation der Gastarbeiter*innen ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Sie prägen diese mit und gestalten seit der ersten Niederlassung die deutsche Kultur. Sie sind nicht ganz türkisch, aber auch nicht ganz deutsch. Es ist eine Mischkultur, die viele mit Stolz mit sich tragen. Trotzdem werden deutsche Kinder mit Migrationshintergrund noch systematisch diskriminiert. Es fängt schon beim Wunschkitaplatz an, geht weiter bis zur Schulempfehlung in der vierten Klasse, wenn sie zur weiterführenden Schule wechseln sollen. An der Uni werden sie mit einer Umgebung konfrontiert, die sie aus ihrem Safe Space rausholt. Sie lehren sich selbst, wie man den BAfög-Antrag stellt, wie Wohnungen gesucht und gefunden werden. Und schließlich bringen wir uns selbst das Studieren bei. Akademietexte sind nicht ganz zugänglich, aber daran soll es nicht scheitern. Deshalb führen wir Vokabellisten mit neuen Wörtern. Die Überschrift lautet “Sprache in der Akademie”. Ey, wollt ihr einen Çay trinken mit mir?