Lange kannte ich kein passendes Wort, um Menschen zu beschreiben, dass ich nicht schüchtern bin, auch wenn ich oft sehr still bin. Jetzt weiß ich: Ich bin einfach nur introvertiert.
Nach innen oder nach außen gekehrt?
Seit einer halben Stunde sitze ich alleine auf einem Stuhl in der Ecke. Ich bin etwas überfordert mit der Situation und frage mich, warum ich die Einladung zu dieser Geburtstagsfeier nicht wie sonst auch höflich abgelehnt habe. Am liebsten würde ich aufstehen, mich unbemerkt aus dem Raum schleichen und nach Hause gehen.
Kommt dir diese Situation bekannt vor? Dann bist du wahrscheinlich introvertiert. So wie ich.
Psycholog:innen gehen davon aus, dass sich alle Personen auf einer Art Spektrum zwischen introvertiert und extrovertiert befinden. Extrovertierte Menschen gehen gerne soziale Interaktionen ein und können daraus viel Energie ziehen. Es fällt ihnen leicht, auf andere Menschen zuzugehen und können in Gesprächen einfach drauflosreden. Introvertierte Menschen sind da nicht in allem das komplette Gegenteil, aber ihnen fällt es oft schwerer, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen und sie denken lieber nach, bevor sie anfangen zu reden. Am entscheidendsten ist aber, dass introvertierte Menschen von sozialen Kontakten eher angestrengt sind und danach eine Ruhepause einlegen müssen. Sie ziehen ihre Kraft vor allem aus dem Alleine sein. Da es sich um ein Spektrum handelt, gibt es durchaus auch viele Menschen, die sich mal so und mal so fühlen.
Manchmal ist es kompliziert
Dass ich ein introvertierter Mensch bin, war wohl schon als Kind sichtbar. Bei Festen saß ich lieber neben meinen Eltern als mit fremden Kindern zu spielen. Unbekannte Situationen waren noch nie mein Ding. In der Schule hatte ich immer eher wenig Freund:innen, dafür aber umso engere. In Gesprächsrunden habe ich immer lieber zugehört als selbst etwas zu sagen. Als Kind wurde mir deshalb immer gesagt, ich „sei halt schüchtern“.
Je älter ich werde, desto mehr merke ich: Das stimmt überhaupt nicht! (Oder zumindest nicht mehr). Bei meinem ersten Referat in der Grundschule habe ich meine Notizen an meinem Platz liegen lassen. Ich habe den Vortrag einfach ohne gehalten und es hat mir nicht mal was ausgemacht. Ich konnte immer gut vor Gruppen reden, solange ich vorbereitet bin und die Situation halbwegs unter Kontrolle habe. In der Schule war ich im Debating Club, in meinem Freiwilligendienst habe ich Wattführungen gegeben und heute bin ich bei bonnFM: Ich bin nicht schüchtern!
Trotzdem fällt mir auch heute noch in meinem Alltag auf, dass ich viel von Menschen umgeben bin, die anders ticken als ich. Mein Redeanteil in großen Gruppen ist nach wie vor eher klein – ich beobachte Situationen lieber als aktiv mitzumischen. Mein Freund:innenkreis ist überschaubar und am liebsten mache ich am Wochenende gar nichts und das am besten alleine. Meistens bin ich damit auch sehr glücklich, aber trotzdem habe ich auch manchmal meine Zweifel. Dann fühle ich mich fehl am Platz und unwohl, weiß nicht, wie ich mich verhalten soll und frage mich, warum anderen alles so leicht zu fallen scheint.
Hinzu kommt, dass ich mich mit diesen Problemen und Zweifeln oft alleine fühle. Dadurch, dass extrovertierte Menschen naturgemäß im Alltag so viel sichtbarer sind, fühle ich mich manchmal wie die einzige introvertierte Person auf dieser Welt. Denn egal ob Podcast oder Instagram-Post, auch in den Sozialen Medien stellen sich extrovertierte Menschen viel öfter zur Schau als die Introvertierten. Das heißt aber nicht, dass es die introvertierten Menschen nicht gibt!
Allein und doch im Geiste verbunden
Ein paar Monate nach der Alleine-in-der-Ecke-sitzen-Erfahrung auf dem Geburtstag steht mir ein ähnlicher Abend bevor, diesmal eine Weihnachtsfeier. Mein großes Glück ist ein anderer Mensch, der genauso planlos in der Gegend rumsteht wie ich. Wir kennen uns lose und tuen uns schnell für den Abend zusammen. Wir klammern uns an unser gemeinsames Gespräch, um bloß nicht mit anderen zu reden oder gar in ein Gruppengespräch verwickelt zu werden. Wir beobachten und analysieren das Bierpongspiel unauffällig aus unserer Ecke heraus und diskutieren ausführlich, welche Zeit angebracht ist, um zu gehen. Als die ausdiskutierte Uhrzeit eintrifft, nicken wir uns zu, holen unsere Jacken und schleichen uns unter möglichst unauffälligem Winken raus.
Nachdem ich selber nach und nach begriffen habe, dass ich introvertiert bin, hat es mir sehr geholfen, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Einige waren überrascht und haben das erste Mal eine plausible Perspektive auf meine Gedankenwelt erhalten. Anderen sind sofort ähnlich tickende Menschen in ihrem Umfeld eingefallen. Oft konnte ich extrovertierte Menschen für die Bedürfnisse und Verhaltensweisen von Introvertierten sensibilisieren und mir so auch selbst die sozialen Kontakte etwas erleichtern. In dem ich über das Thema gesprochen habe, habe ich aber auch viele andere Introvertierte gefunden. Endlich hatten wir einen gemeinsamen Begriff, über den wir unsere Denk- und Verhaltensweisen ein Stück weit definieren konnten. Darüber bin ich heute auch selbst viel sensibler und verständnisvoller gegenüber den Verhaltensweisen von Menschen, egal ob extrovertiert oder introvertiert. Und zuletzt kann ich mich auch selbst besser akzeptieren und habe gelernt, meine Introversion als Stärke zu begreifen.