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Bild: © Biffy Clyro 2016 via Konzertbüro Schoneberg

Pop ist der bessere Rock

Lesezeit: 4 Minuten

Spätestens seit ihrem letzten Album Opposites sind Biffy Clyro endgültig in den Olymp der internationalen Rockmusik aufgestiegen und füllen mittlerweile ganze Stadien. Auf ihrem neuen Album Ellipsis gehen die Schotten nun abermals neue Wege. Soviel vorweg: Es gehört zu den poppigsten ihrer bisherigen sieben Studioalben. Der Band aber nun Ausverkauf und Kommerz vorzuwerfen, würde zu kurz greifen, denn Biffy Clyro wissen genau, was sie tun.

Eine Wiedergeburt?

Biffy Clyro ist zweifelsohne eine der interessantesten Bands der Gegenwart. Angefangen vor über 20 Jahren als verschrobene Alternative-Prog-Rock-Gruppe, haben sie sich im Laufe ihrer Karriere immer weiterentwickelt und in ihrer musikalischen Historie so einige Haken geschlagen. Nachdem sie mit dem Doppelalbum-Epos„Opposites Kritiker und Fans weltweit begeistert haben, warteten alle gebannt auf das neue Album Ellipsis. Aber was ist dieses Album? Eine Weiterentwicklung? Ein Rückschritt? Ein Neuanfang? Um es kurz zu machen: Alles davon.

Das Album beginnt mit dem kraftvollen „Wolves Of Winter“, das unzugängliche Rhythmen mit großen Melodien und einfallsreichem Songwriting verbindet – Gitarren-Synth-Solo inklusive. Ein grandioser Start in das Album, das allerlei Hoffnungen weckt: So klingen Biffy Clyro also im Jahr 2016. Diese Tendenz setzt sich fort, „Friends and Enemies“ und „Animal Style“ sind großartige, innovative Alternative bzw. Popsongs. Ja, Popsongs. Biffy Clyro haben im ersten Teil von Ellipsis einige ihrer besten Songs geschrieben. Aber obwohl man das Gefühl hat, dass bei der Rezeption dieser Band Komplexität mit Qualität daherkommt und Eingängigkeit mit Verrat an der eigenen Musik, ist das genaue Gegenteil der Fall.

Reduktion zu neuer Größe

Biffy Clyros musikalische Entwicklung auf Ellipsis basiert auf einer so simplen wie durschlagenden Erkenntnis: „The most exciting music coming out now is pop. […] I feel like rock music in the last decade has stopped evolving“, wie Sänger Simon Neil im Interview mit Noisey treffend beschreibt, sie selbst nennen hier etwa Kanye West oder Beyoncé, die mit „Yeezus“ und „Lemonade“ zwei der spannendsten Alben der letzten Jahre veröffentlicht haben. Die Musik der Band hat diese Erkenntnis verinnerlicht: Sie versuchen nicht mehr zu erneuern und Innovationen zu schaffen, indem sie den Pop umgehen, gleichzeitig wollen sie ihn auch nicht nur für ihren kommerziellen Erfolg nutzen, wie es etwa auf Only Revolutions den Anschein machte. Natürlich sind fast alle Songs des Albums rockig gehalten, Ellipsis bewegt sich trotzdem, mit einigen Ausnahmen, auf dem Gebiet der Popmusik – und verändert anfangs vielleicht mehr als alle vorherigen Alben. Teile des Albums sind eingängiger und poppiger als je zuvor – und vielleicht gerade deshalb besser als je zuvor.

Dazu zählt auch das schmachtende und schmalzige „Re-Arrange“, das eine der eingängigsten Melodien der gesamten Band-Historie aufweist. Obwohl viele den Song als radiotaugliches Gedudel abstempeln werden, ist er doch Ausdruck einer der spannendsten Entwicklungen, die Biffy Clyro jemals hatten. Hier hört man eindeutig den großen Einfluss der zeitgenössischen Popmusik. Man kann eben erst die besten Popsongs schreiben, wenn man sich einmal von dieser Musik distanziert hat. Während sich beispielswiese Coldplay auf ihrem neuen Album dem Kommerz und der weichgespülten Radiomusik hingegeben haben, machen Biffy Clyro das gleiche – nur besser, ausdrucksstärker, und was das Wichtigste ist: Sie haben wie keine zweite Rockband die wahre Bedeutung des Pops für die heutige Musikwelt verstanden und machen das richtig, was Coldplay falsch gemacht haben.

Genialität mit Ausnahmen

Diesem Schema folgt der Rest des Albums aber leider nur teilweise. „Herex“ und „Flammable“ überzeugen noch einigermaßen mit groovigen Drums, Gitarrenriffs und eingängigem, hymnischen Refrain für die großen Stadien. Trotzdem muss man die Frage stellen, wieso solche Songs wie Lückenfüller auf einem 11-Tracks-Album klingen und teilweise schwächer sind als die meisten auf dem vorangegangenen Opposites mit ganzen 20 Songs. Und auch die Akustik-Ballade „Medicine“ würde man der Band verzeihen, wenn die Gesamtlaufzeit des Albums nicht lediglich 39 Minuten betragen würde (halb so lang wie Opposites mit 78 Minuten). „On a Bang“ jedoch hört man deutlich den Einfluss von Kanye Wests Yeezus an, spart aber auch nicht mit Biffy’scher Verschrobenheit, Melodie und ungewöhnlicher Instrumentierung: einer der besten Songs des Albums. Was sich die Band allerdings mit den Songs „Small Wishes“ und „Howl“ gedacht haben, das erschließt sich einem nicht wirklich. Ersterer ist wohl der Versuch, einen Alternarock-Country-Song zu machen, der gnadenlos misslingt. Zugegeben, die Idee ist wirklich nett, und die Band hat schon oft gezeigt, dass aus ungewöhnlichen Einfällen manchmal die besten Songs entstehen, dieser hier klingt aber einfach nur langweilig und glattgebügelt. Gleiches gilt für „Howl“, ein Song, der trotz des Elektro-Breaks so ausgelutscht klingt, als würde die Band mit 60 Jahren aus finanzieller Not noch ein Comeback-Album aufnehmen. Das Album schließt mit „People“, das anfangs wie das traurige Lied eines Musicals klingt, aber mit Synthie-Flächen à la Bring Me The Horizon, gutem Songwriting und leicht mysteriösem Klang einen ungewöhnlichen, aber stimmigen Endtrack darstellt.

Textlich behandelt Ellipsis persönliche Themen, wie Menschen, die einem nicht gut tun („Friends and Enemies“) oder die Verletzlichkeit einer Liebe („Re-Arrange“), aber auch die schottische Unabhängigkeit („Small Wishes“) oder die Tatsache, dass die Liebe eines Menschen besser ist als jede Droge („Medicine“). Lyrisch bleibt aber das, was Simon Neil hier abliefert, unter den bisherigen Alben.

Soundtechnisch bleiben allerdings kaum Wünsche offen. Die Band lässt gekonnt Effekte und Synthesizer-Klänge einfließen, es gibt Glockenspiele, E-Pianos und sogar einen Kinderchor. Die Gitarren- und Bass-Sounds sind lebendig, individuell und stimmig. Die Produktion ist etwas glatt ausgefallen, verantwortlich zeigt sich hier zum ersten Mal der Produzent Rich Costey, dessen Einfluss man deutlich hört und der dem Album einen sehr „perfekten“ Klang ohne Kanten gibt. Etwas mehr „Dreck“ wäre wünschenswert gewesen, ansonsten geht die Produktion Hand in Hand mit der Musik.

Eine verpasste Chance

Am Ende bleiben gemischte Gefühle. Würde Biffy Clyro konsequent der Maxime folgen, die sie sich selbst gesetzt haben, und zwar dass Pop mittlerweile der bessere Rock ist, würden sie sich sozusagen zu neuer Größe reduzieren. Dies geschieht auch auf Ellipsis, jedoch schafft die Band oft nicht, auf dem schmalen Grat zwischen Kunst und Kommerz zu balancieren. Man hört, dass es das erste Album ist, das nach eigener Aussage von „Pop- und HipHop-Aufnahmen beeinflusst ist“ (Interview mit guitar), und das ist streckenweise durchaus positiv zu bewerten. Letztendlich wird Ellipsis den Status von Biffy Clyro als eine der großen Stadion-Rockbands der Gegenwart untermauern. Das Album hätte allerdings ein Meilenstein sein können – Biffy Clyro standen sich dabei nur leider, leider selbst im Weg.