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Vertrauenswürdig? Über unser Gegenüber bilden wir uns meist blitzschnell eine Meinung. Foto: Unplash

So ein Irrtum! Anleitung für bessere Menschenkenntnis

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Lockdown, online-Vorlesungen, Corona-Winter, Lockdown, Social Distancing: Seit zwei Jahren habe ich das Gefühl, ein Stück meiner Social Skills und Menschenkennnisse eingebüßt zu haben. Doch ein bisschen Recherche hat mir gezeigt: Vielleicht waren sie auch vor Corona nie so gut , wie gedacht. Denn die meisten Menschen glauben, ihr Gegenüber auf den ersten Blick einschätzen zu können. In Wahrheit liegen sie mit ihrem Blitz-Urteil oft daneben – merken das aber kaum. Zum Glück gibt es ein paar Tipps, die vor Fehlschlüssen schützen.

Habt ihr seit Beginn der Pandemie auch immer wieder das Gefühl, ein Stück eurer sozialen Fähigkeiten und Menschenkenntnis verloren zu haben? Dabei zeigt die Psychologie mittlerweile, dass viele Menschen auch ohne Pandemie ihre eigene Menschenkenntnis eher überschätzen. Es gibt eine Reihe gut dokumentierter psychologischeUrteilsverzerrungen, denen wir alle – ob wir wollen oder nicht – sowohl beim Einschätzen anderer Personen unterliegen als auch beim Beurteilen unserer eigenen Fähigkeiten. Wenn wir diese Tendenzen kennen, kann es uns besser gelingen, sie im Alltag aufzudecken und ihnen bewusst entgegenzusteuern.

Urteilsfehler treten besonders häufig in unserer Metakognition auf, das heißt beim Nachdenken über unser eigenes Wissen und Fähigkeiten. Forscher*innen wissen schon seit einiger Zeit, dass Menschen sehr oft unbewusst metakognitiv fehleinschätzen. Bereits seit den 1980ern zeigten immer mehr Studien, dass gut angepasste, “normale” Menschen mit positiven Illusionen leben, die ihr Selbstbild in ein besseres Licht rücken. Und stellten damit die Lehrmeinung in Frage, dass eine möglichst realistische Wahrnehmung der Welt normal und für die psychische Gesundheit sogar unerlässlich sei.

Zum Beispiel schätzen die meisten Menschen ihre Leistungen und Talente als überdurchschnittlich ein, unabhängig vom Bereich: Wir halten uns für klüger, kompetenter und attraktiver als die Mittelmäßigen – und auch für besonders gute Menschenkenner. Wie die Psychologen Justin Kruger und David Dunning von der Cornell University 1999 in mehreren Experimenten zeigten, ist das Ausmaß der Selbstüberschätzung umso größer, je inkompetenter man auf einem Gebiet ist. In einem Grammatiktest zum Beispiel schätzten die schlechtesten 25 Prozent der Testpersonen ihre eigene Leistung als überdurchschnittlich gut ein, ebenso wie der Rest der Testteilnehmer. Nur das beste Viertel zeigte Bescheidenheit: Sie unterschätzten ihre Leistung etwas.

Verzerrtes Selbstbild

Evolutionär gesehen verstehe ich, dass es bis zu einem gewissen Grad Sinn machen kann, sich vor sich selbst ins rosigere Licht zu rücken. Man ist eher bereit, eine schwierige Aufgabe in Angriff zu nehmen – und wird möglicherweise auch öfter dafür belohnt. Wenn wir andere beurteilen, führt diese Selbstverherrlichung jedoch umgekehrt meist dazu, dass wir sie schlechter beurteilen, als sie es verdienen. Das liegt daran, dass wir andere immer im Vergleich zu unserem eigenen, positiv verzerrten Selbst bewerten.

Diese Selbstüberschätzung geht häufig mit dem so genannten Confirmation Bias einher – also der Tendenz, einmal gefällte Urteile immer wieder zu bestätigen, anstatt sie zu hinterfragen. Der Kognitionspsychologe Peter Wason beschrieb diese mentale Fehleinschätzung bereits 1960 in einem seiner klassischen Experimente: In diesem Experiment sollten seine Proband*innen zum Beispiel raten, nach welcher Regel die Zahlenreihe 2-4-6 gebildet wurde. Die meisten vermuteten eine aufsteigende Zahlenfolge mit einem Intervall von zwei und gaben daher Beispiele wie 4-6-8, woraufhin sie stets eine positive Rückmeldung erhielten. Dies führte sie jedoch nicht auf die eigentliche Regelmäßigkeit: eine beliebig aufsteigende Zahlenfolge. Um dies herauszufinden, hätten sie als Gegenprobe ungerade oder unregelmäßige Intervalle wie 4-6-9-16 nennen müssen, was aber nur wenige taten.

Die Gefahr des Confirmation Bias

Der Confirmation Bias ist auch dafür verantwortlich, dass wir nach dem ersten Kontakt das Gefühl haben, eine Person bereits richtig eingeschätzt zu haben und uns bei weiteren Begegnungen in diesem ersten Urteil bestätigt fühlen. Das liegt an automatisierten kognitiven Prozessen, die alle neu beobachteten Verhaltensweisen mit unserer Erwartung abgleichen. Wenn wir etwas beobachten, das nicht in diese Struktur passt, wird es von unserem Unterbewusstsein einfach übergangen. So erweist sich unser anfängliches Bild von der anderen Person am Ende immer als richtig – und wir bleiben überzeugt, dass wir eine gute Menschenkenntnis haben.

Außerdem zeigt sich, dass wir unseren ersten Eindruck nur äußerst ungern ändern. Die Psychologin Natalie Wyer zeigte das 2010 in einer Studie. Ihre Teilnehmer*innen sahen sich das Foto eines jungen, glatzköpfigen Mannes namens Edward, der ihnen entweder als Krebspatient oder als Skinhead vorgestellt wurde. Wie erwartet stuften die Proband*innen ihn als feindseliger ein, wenn sie ihn für einen Skinhead hielten. Als sie anschließend weitere Informationen erhielten, die Edward in einem günstigeren Licht darstellten, änderten sie diese Meinung – allerdings nur in Äußerungen, die sie bewusst machten. Ihre Einschätzung von Edward als feindselig blieb bestehen, obwohl sie objektive Informationen erhalten hatten, die ihrem ursprünglichen Eindruck widersprachen.

Besonders gefährlich kann der Comfirmation Bias in Bezug auf Diskriminierung werden. Denn Menschen unterliegen ihm bei einer Vielzahl von alltäglichen Beurteilungen, nicht nur bei der Begegnung mit neuen Menschen. Gerade bei der Verbreitung von Vorurteilen und Stereotypen über bestimmte Personengruppen weckt er starke Erwartungen. Unbewusste kognitive Prozesse sorgen dafür, dass nur geeignete Informationen in unser Bewusstsein gelangen – deshalb können sich Vorurteile hartnäckig halten, selbst wenn gegenteilige Informationen verfügbar sind.

Können wir nichts gegen diese Verzerrungen tun?

Verzerrte metakognitive Urteile, Selbstüberschätzung, Confirmation Bias: Können wir nichts gegen diese Verzerrungen tun? Doch! Zum Beispiel spielt es eine große Rolle, ob wir uns der Faktoren bewusst sind, die uns zu unseren Urteilen geführt haben. Besonders effektiv ist es, die möglichen Fehlerquellen bewusst zu hinterfragen, wie zum Beispiel: “Person X scheint mir inkompetent zu sein. Aber könnte das daran liegen, dass mir ihr Aussehen nicht gefällt und ich ihr deshalb – rein intuitiv, ohne rationale Gründe – die Kompetenz abspreche?” Durch solche Fragen ist es leichter, Fehleinschätzungen gedanklich zu korrigieren.

Eine zweite Lösungsstrategie bezieht sich auf die Bekämpfung des Widerwillens, den ersten Eindruck zu korrigieren und gegen unseren Confirmation Bias zu arbeiten. Menschen ändern ihre Einstellung im Unbewussten nur dann, wenn sie über gegenteilige Informationen intensiv nachdenken. Es reicht nicht aus, die gegenteilige Information nur zur Kenntnis zu nehmen. Sucht also bewusst nach Informationen, die euren ersten Eindruck einer Person widersprechen. Nur so könnt ihr erkennen, dass sich diese Person anders verhält, als ihr zunächst angenommen haben.

Ob im online Seminar oder im „echten“ Leben: Für mich nehme ich mit, diese beiden Strategien zu nutzen. Vielleicht stelle ich dann fest, dass Menschen, die einem “seltsam” vorkamen – sei es die neue Kommilitonin oder der Außenseiter beim Sport – gar nicht so seltsam sind, wie ich zuerst dachte.

Und ich nehme mir vor mehr zu schätzen, wenn Menschen sich selbst etwas nicht zutrauen. Sei es eine Ärztin, die einen lieber zu einem Spezialisten schickt, als eine Fehldiagnose zu stellen; oder Professor*innen, die zugeben, in einem Fachgebiet nicht ausreichend kompetent zu sein. Sie kennen ihre Grenzen wahrscheinlich besser als diejenigen, die an Selbstüberschätzung leiden.