Dr. Jürgen Reiche, Ausstellungsdirektor vom Haus der Geschichte Bonn, erklärt die neue Ausstellung „Schamlos – Sexualmoral im Wandel“, räumt mit gängigen Vorurteilen auf und erklärt, warum wir mit der sexuellen Aufklärung noch lange nicht am Ende sind.
bonnFM Bettgeflüster: Können Sie mir die Idee hinter der Ausstellung „Schamlos” beschreiben? Wie sind Sie darauf gekommen?
Dr. Jürgen Reiche: Ich denke, das ist ein gesellschaftlich relevantes Thema, das jeden interessiert und auch unser Haus interessieren muss, weil es nicht nur um Sex geht, sondern es geht vor allem um Norm, Werte und so ist es halt auch eine Mentalitätsgeschichte, die öffentlich vielfach diskutiert wird und so eine Debatte gehört auch ins Haus der Geschichte. Das war die Grundüberlegung. Und eigentlich wollte ich eine Ausstellung über die sexuelle Revolution machen, die manchmal verortet wird in der Zeit um 1968 rum, aber nachdem man sich eingelesen hat, bin ich doch zu der Überzeugung gelangt, dass es wichtig ist, die ganze Umwelt auszuleuchten. Und auch zu der Überzeugung gelangt, dass es gar keine sexuelle Revolution Ende der 60er Jahre gegeben hat. Wenn es eine sexuelle Revolution gegeben hat, dann war es die mit der Einführung der Pille Anfang der 60er Jahre. Das hat die Gesellschaft sehr verändert.
bonnFM Bettgeflüster: Warum nicht die 68er?
Reiche: Die 68er haben das vielleicht beflügelt, mit Slogans und dem Ausleben von Lebensformen, wenn Sie an die Kommune Eins oder andere denken, aber soweit ich das von Langhans zum Beispiel gehört habe, war auch vieles nur für die Presse gemacht, weil die sich natürlich sehr gierig darauf gestürzt hat und mal eine nackte Brust sehen wollte. Die Einführung der Pille im Westen und zwei Jahre später im Osten Deutschlands, das war schon eine Revolution.
bonnFM Bettgeflüster: Jetzt haben Sie gerade schon angesprochen, dass damals schon vieles für die Presse gemacht worden ist. Wie würden Sie das einschätzen, im Vergleich zu heute, wie sich Sex und Nacktheit und dieser gesamte Themenkomplex aus Sicht der Presse verändert hat?
Reiche: Ja gut, es gibt ja den Slogan „Sex sells“ und der gilt immer noch. Und die Medienlandschaft ist heute vielgestaltiger geworden im Vergleich zu den 50er und 60er Jahren und sie ist sicherlich auch offener geworden diesen Themen gegenüber. Wenngleich es auch in den 60er Jahren schon Zeitschriften gegeben hat, die sich dem Thema sehr stark zugewandt haben. Und heutzutage ist natürlich auch das Interview dazu gekommen, wo – so scheint es zumindest – gar keine Hemmschwellen mehr existieren. Sie können ja alles aus dem Internet runterladen: von Sex bis Pornografie und da natürlich auch ganz üble Dingen, wie Sex mit Kindern und andere.
bonnFM Bettgeflüster: Wie wichtig schätzen Sie da eine Ausstellung zu einem immer noch teils tabuisierten Thema ein? Weil das Presseecho zu „Schamlos“ ist ja schon sehr groß.
Reiche: Das Presseecho ist sehr groß, das ist auch erfreulich. Aber es ist, soweit ich die Berichterstattung überblicken kann, auch sehr differenziert dargestellt, was in der Ausstellung gezeigt wird. Und das ist auch gut so. Das Publikum kommt und das ist für mich auch der Beleg, dass das Interesse an solchen Themen groß ist. Die Generation der 30-40 Jährigen, deren Eltern sind mit Normen aufgewachsen und einem Wertekanon, der vollkommen anders ist, als der heutige. Und daran mal zu erinnern, weil es ja auch dazu führt und geführt hat, dass Deformierung und Verklemmtheiten da aufgetreten sind, das ist schon wichtig. Auch die Rolle der Kirchen, die Rolle der Parteien… Warum wurde die Frau so stark in die Küche gedrängt in den 60er und 50er Jahren und wie lange hat es gedauert, bis es zu einer Liberalisierung kam. Die ganzen Reformgesetzgebungen finden alle statt so ab den 70er Jahren. Homosexualität ist auch ein Stichwort, das in der Ausstellung sehr stark behandelt wird. Auch heute gibt es noch Vorurteile gegenüber Homosexuellen und lesbischen Beziehungen. Homophobie ist natürlich auch allgegenwärtig. Und da was dagegen zu setzen ist natürlich wichtig – auch für ein Haus der Geschichte.
bonnFM Bettgeflüster: Wie ist die Ausstellung aufgebaut?
Reiche: Die Ausstellung ist in fünf Themenkomplexe gegliedert und jede Ausstellungseinheit ist einigermaßen chronologisch abgehandelt – von den 50er Jahren bis in die Gegenwart hinein. Wir fangen an mit „Rollenbildern“, gefolgt von „Sitte und Anstand“, danach kommt „Homosexualität“, dann ein ganz wichtiges Kapitel aus meiner Sicht: „Erziehung“ – aber nicht nur im Hinblick auf Sexualkunde, sondern vor allem Erziehung in den 50er, 60er, 70er Jahren, wo der Druck der Eltern, der Kirche so stark war auf die Kinder, dass man sich das heute gar nicht mehr vorstellen kann. Auch mit Gewalt verbunden, auch Auswüchse, weil man es anders machen wollte Ende der 60er Jahre, so viele Übergriffe. Alles das wird behandelt. Dann gibt es ein Kapitel „Sex sells“, was auch interessant ist. Die Geldmaschine, die natürlich auch befeuert wird durch Sex und Pornografie hat auch eine lange Tradition, aber heute natürlich ungleich verschieden zu dem, was in den 50er, 60er Jahren passiert ist. Das Internet spielt eine Rolle, die indizierten Beiträge. Bis zum Schlussraum und der behandelt das Thema „Liebe“, das natürlich auch was mit Sex zu tun haben sollte.
bonnFM Bettgeflüster: Mich hat der Bildschirm zur Abstimmung, ob man Prostitution verbieten lassen sollte oder nicht, verwundert. Und zwar, dass man überhaupt die Frage stellen kann und dann die Antworten. Am Sonntag, also zwei Tage nach Eröffnung der Ausstellung, war zwar der Großteil für „zulassen“, aber eben doch eine große Menge auch für „verbieten“. Können Sie sich das erklären?
Reiche: Erstmal geht es ja auch darum, solche Ausstellungen mit einem partizipatorischen Ansatz zu versehen. Also, dass die Leute nicht nur vorbeilaufen und zugeballert werden mit Informationen, sondern sie sollen sich natürlich auch aktiv mit den Themen auseinandersetzen. Auch provozieren kann man die Leute damit, dass man sie abstimmen lässt, wie in diesem Fall. Und die große Zustimmung für und gegen Prostitution spricht erstmal dafür, dass die Leute dieses Angebot annehmen. Unsere Überlegung war, dass man nachdem man die Ausstellung und auch dieses Kapitel „Sex sells“ durchlaufen hat, seine Meinung geändert hat und vielleicht auch eine andere Wahrnehmung mitnimmt und vielleicht nicht „ja” sondern eher „verbieten“ drückt. Denn es geht bei der Prostitution viel um Ausbeutung von Frauen. Vielen Frauen kommen aus dem Ostblock und Deutschland ist so ein Markt für Pornografie und Prostitution geworden. Aber wir sind auch nicht in der Position und ich schon gar nicht, der jetzt sagen würde: Das darf alles gar nicht sein, das ist Teufelszeug. Sondern man muss versuchen, es da, wo es kriminell ist, zu unterbinden. Da geht es auch um das Prostitutionsgesetz der Bundesregierung, das wird auch hinterfragt.
bonnFM Bettgeflüster: Gibt es, vielleicht auch im Vorlauf der Ausstellung bei der Recherche Zahlen und Fakten, die Sie überrascht haben?
Reiche: Vieles ist natürlich überraschend, auch im Detail die Beispiele, die wir nennen und die Äußerungen von Zeitgenossen. Es ist natürlich erschreckend zu hören, wie hilflos manche Frauen vor Einführung der Pille waren, weil sie ungewollt schwanger wurden. Und was mich auch überrascht hat, war, dass die vermeintlich prüden Jahre der 50er offensichtlich gar nicht so prüde waren, weil so viele Ehen geschlossen wurden, wo die Frau schon schwanger war. Und so gibt es eine ganze Reihe an Zahlen und Fakten, die auch für mich sehr überraschend waren.
bonnFM Bettgeflüster: Haben Sie ein Lieblingsausstellungsstück?
Reiche: Die Ausstellung hat 900 Objekte, das ist eigentlich der reine Wahnsinn, weil es eine verhältnismäßig kleine Ausstellung ist, so viele Objekte zusammenzutragen. Und die Objekte reichen von einer Kanzel aus einer Kirche, das ist glaube ich das größte Objekt, bis zur Pille, das ist wahrscheinlich das kleinste Objekt. Da einen Liebling rauszugreifen, fällt mir schwer, weil es in der Ausstellung so viele Lieblinge gibt. Aber Themen wie „Kranzgeld“ und Dinge, die mit einer Anekdote verbunden sind, sind ans Herz gewachsen. Am Schluss der Ausstellung fehlte aus meiner Sicht sehr viel zum Thema „Sex sells“. Und da ich in Bonn beheimatet bin genau wie in Berlin, bin ich in einen Sexshop in Berlin gegangen und habe denen erzählt, was wir vorhaben. Und bin dann da mit acht Dildos, sechs Liebeskugeln und allen möglichen Accessoires wieder rausgekommen. Was am Flughafen bei der Durchleuchtung meines Gepäckstücks sehr viel Verwunderung ausgelöst hatte (lacht). Unter anderem auch die Bemerkung „Na, sie haben ja noch viel vor!“. Daran sehen Sie, dass die Ausstellung auch Spaß gemacht hat. Denn jede Ausstellung, die wir hier realisieren, muss natürlich auch Spaß machen, auch wenn es ganz ernste Themen sind. Sonst könnte man diese Leistung gar nicht erbringen.
bonnFM Bettgeflüster: Abschließend: Wie ist Ihre Einschätzung, sind wir mit der Entwicklung und mit der Enttabuisierung des Themas Sex am Ende?
Reiche: Ich glaube erstmal, dass es Wellen gibt. Es gibt sicherlich mal wieder Wellen der Prüderie. Das sieht man ja jetzt schon. Das Rückbesinnen auf Gefühle, die auch existieren. Da läuft auch vieles parallel. Ich glaube auch nicht, dass es jetzt eine Gesellschaft Porno geworden ist. Das Angebot ist sehr viel größer geworden, es gibt weniger Hemmschwellen sich zu trennen, in unterschiedlichen Arten von Lebensgemeinschaften ist das Leben leichter geworden, aber die Gesellschaft ist deshalb nicht völlig enthemmt. Es gibt nach wie vor Werte und Normen, die gelten und ich denke man darf dieses Thema auch nicht zu aufgeregt sehen.
bonnFM Bettgeflüster: Vielen Dank!
Reiche: Bitte.
Die Ausstellung „Schamlos- Sexualmoral im Wandel“ ist noch bis Februar 2016 im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen. Der Eintritt ist frei.
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