Erasmus – ein Semester im Ausland zwischen Ausgangssperre, Parks und Alkohol.
Ich öffne mein Emailpostfach und da ist sie: die Mail, die den Verlauf meines Jahres und Studiums komplett verändern wird. Die Charles University in Prag hält trotz Corona an Erasmus fest und ich kann das Wintersemester wie geplant im Ausland verbringen. Jetzt beginnt die weitere Planung. Zugegeben, die Suche nach WG-Zimmern über Facebook-Gruppen ist mir etwas suspekt, aber „andere Länder, andere Sitten“ denke ich mir und finde auch schnell meine zukünftigen Mitbewohner*innen. Weil ich kurzfristig einen Platz für einen Tschechisch-Sprachkurs der Uni vor Semesterbeginn bekomme, geht die Reise plötzlicher los als erwartet. Vielleicht ist das auch der Grund warum ich erst auf der achtstündigen Zugfahrt die Nervosität in mir spüre und mich frage, ob ich nun echt die richtige Entscheidung getroffen habe. Während einer Pandemie in ein Auslandssemester starten – ist das wirklich eine gute Idee? Bin ich wirklich bereit in einem fremden Land zu leben, in dem ich die Sprache nicht verstehe?
Ankunft in Prag
Ich komme abends erschöpft am Bahnhof an und als ich diesen verlasse wird mir klar: das wird mein halbes Jahr! Mich kennt niemand in dieser wunderschönen Stadt und ich kenne keinen, aber ich habe fünf Monate vor mir und ich möchte diese Zeit nutzen so gut es eben geht. Am nächsten Morgen ist diese Euphorie etwas gedrückt, mir ist schlecht vor Aufregung und ich hoffe, dass im Sprachkurs wenigstens eine nette Person sitzt. Als ich den Raum betrete kommt erstmal ein Schock: die Gruppe besteht fast nur aus Deutschen. „Na toll“, denke ich mir „jetzt bin ich extra in einem anderen Land und trotzdem nur Deutsche um mich herum“. Der Frust legt sich aber schnell wieder: alle sind super nett und immerhin ist ja auch erst der erste Tag, es kommen bestimmt noch viele andere Möglichkeiten Leute kennenzulernen. Bereits am zweiten Tag denke ich schon gar nicht mehr daran, ich habe jetzt Freund *innen mit denen ich vormittags an der tschechischen Sprache verzweifle, nachmittags Ausflüge unternehme und abends feiere. So habe ich mir Erasmus immer vorgestellt! Auch meine Mitbewohner*innen, eine weitere Deutsche und drei Französ*innen, ziehen nach und nach ein.
Corona
Eine Woche vor Semesterbeginn holt mich dann die Realität ein: eine Freundin aus dem Sprachkurs ist positiv auf Corona getestet worden. Mein Testergebnis einige Tage später kommt ebenfalls positiv zurück. So habe ich mir mein Erasmussemester garantiert nicht vorgestellt, zwei Wochen alleine in meinem Zimmer. Zum Glück habe ich meine Quarantäne komplett symptomfrei überstanden, habe aber dafür miterlebt wie schlecht es anderen damit ging. Und mit jemandem zu telefonieren, die denkt dass sie gleich erstickt, weil sie keine Luft bekommt und du kannst absolut nichts tun, ist einfach echt kein gutes Gefühl. Glücklicherweise haben sich alle in meinem Umfeld schnell wieder erholt und durch die vielen Infektionen zu Semesterbeginn gab es zumindest in meiner Erasmus-Bubble so etwas wie Herdenimmunität.
Mein Prag Vibe
Mein Onlineseminar ist fast vorbei, in der WG läuft Musik. Es ist Donnerstagabend, wir machen Cocktails so wie jede Woche. Die Stimmung ist gut und ich lerne mehr Trinkspiele als ich an einer Hand abzählen kann. Zwei Tage später: es klingelt an der Tür. Unsere Nachbarn kommen vorbei, eine Tür wird zum Bierpong-Tisch, das Badezimmerfenster zum Raucherspot und das leerstehende Zimmer zum Wohnzimmer. Das Turnier startet und über den Abend wird eine Sprache von der nächsten abgelöst. Mal höre ich ein Gespräch auf französisch, dann spreche ich mit jemandem auf deutsch und dann switchen alle wieder zu englisch. Nachdem auch die letzten gegangen sind, sitze ich mit meinen Mitbewohner*innen am Esstisch, vor uns unsere Burgerking-Bestellung, nur eine von unseren Traditionen.
Am nächsten Morgen geht es früh raus, wir haben ein Auto gemietet und es geht in die Natur. Einer fährt, der andere kümmert sich um die Musik, ich plane mit meiner Mitbewohnerin auf der Rückbank unser Programm für den Tag. Es ist schön mal aus der Stadt rauszukommen, etwas anderes zu sehen. Das Wochenende ist viel zu schnell auch wieder vorbei und ich treffe mich mit Freund*innen aus meinem Sprachkurs zum Spazierengehen. Ich habe gefühlt jeden Park in Prag inzwischen gesehen. Als ich wieder nach Hause komme, riecht es in der WG nach Essen. Mein französischer Mitbewohner hat gekocht, wir essen und lassen den Tag mit gutem Wein ausklingen. Einige Tage später treffe ich mich mit einer Freundin in ihrer WG, wir kochen gemeinsam und backen Brownies. Wir lachen, essen, spielen Karten und genießen den Abend, der darin endet, dass ich dort übernachte, weil ich den Beginn der Ausgangssperre verpasst habe.
Die Wochen sind ähnlich, trotzdem passiert immer was. Im November öffnen sogar Museen, Restaurants und Bars wieder. So fühlt es sich zumindest außerhalb von Univeranstaltungen wieder fast normal an. Ich treffe mich mit Freund*innen zum Lernen im Café, besuche Museen und sitze abends in einer Bar. Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht gelten weiterhin, aber es ist schön zumindest einen kleinen Teil Normalität zu leben.
Semesterende und Abschied
Nach Weihnachten und meiner Rückkehr nach Prag kommt jetzt der stressige Part des Semesters. Die Abschlussprüfungen stehen an, ich schreibe fast durchgängig Papers, mein Mitbewohner klopft, er hat Crêpes gemacht und fragt, ob ich auch einen möchte. Das ist die Lernpause, die ich nun brauche. Ich sehe meine Freund*innen viel weniger und mir wird klar, dass mir nicht mehr viel Zeit in Prag bleibt und alles ist zusammen einfach sehr viel. Dann einige Tage vor meiner Rückreise fragt ein Freund mich, ob ich zu ihm zum Daydrinking komme, ich habe gerade festgestellt, dass meine Klausur heute ist und nicht wie bisher gedacht in drei Tagen. Also sage ich ihm zu und schreibe die Klausur.
Das ist mein Abschied von Prag. Ein letztes Mal durch den Riegrovy Sady, meinen Lieblingspark, laufen, ein letztes Mal am Fluss spazieren gehen, ein letztes Mal zu viel Vodka-Birnensaft mit einer Freundin trinken. Auf dem Weg zum Flughafen fühle ich mich leer, die Zeit ist viel zu schnell vergangen und eigentlich bin ich noch nicht bereit zurückzufahren. Ich bin wirklich dankbar für alle, die ich in meiner Zeit kennengelernt habe und die die Zeit unvergesslich für mich machen, alle Orte die ich gesehen habe. Ich weiß jetzt mehr über mich selbst, dass Ehrlichkeit oft der beste Weg ist und es keinen Grund gibt sich zu verstellen um anderen zu gefallen. Ich weiß, dass man einen Tequila-Shot mit Salz und Zitrone in Frankreich „Tequ´Paf“ nennt, mein Lieblingswort auf Tschechisch „Zmrzlina“ ist und, dass die tschechische Küche vielleicht einfach nicht meins ist. Aber vor allem weiß ich, dass ich für mich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich werde diese Zeit nie vergessen und dieser Abschied ist bestimmt nicht für immer.