You are currently viewing Die Passion im TV: Eine wahre Leidensgeschichte

Die Passion im TV: Eine wahre Leidensgeschichte

Lesezeit: 4 Minuten

Dieser Kommentar gibt die persönliche Meinung des Autors wieder

Am 13.04.2022 hält das ganze Lande den Atem an. Nach pandemiebedingter Verzögerung ist es endlich soweit: RTL präsentiert seine Version der Leidensgeschichte Jesu als Deutschpop-Musical. Je nachdem wie hoch die eigene Cringe-Toleranzschwelle ist, bleibt der Messias an dem Abend definitiv nicht der Einzige, der exzessiv leidet. Aber auch für alle anderen stellt sich zum Schluss die große Frage: Warum? Eine Antwort findet ihr in diesem Artikel.

Die Mitgliederzahlen der Kirchen befinden sich seit geraumer Zeit im freien Fall. Diesem Abwärtstrend kann das neueste Schmankerl aus der Ideenküche der TV-Redaktionen nur Vorschub geleistet haben – eine Mediensparte also, deren Zuschauerzahlen mit den millionenfachen Klicks der Internetformate auf lange Sicht nicht mithalten können, sodass man wohl von einer Vereinigung von TV und Kirche im Angesicht des gemeinsamen Schwunds sprechen kann. Ein Niedergang, der in beiden Fällen nicht nur vom mangelnden Interesse an der Sache, sondern ebenso von schlichten biologischen Faktoren (das Alter der Zuschauer/Mitglieder) gelenkt wird. Die offenbare Sinnhaftigkeit des Zusammenschlusses von Kirche und TV dürfte jedoch nicht von beiden Seiten als solche empfunden werden. Für die Kirche kommt die jüngste Anbiederung des Fernsehen in Form einer Deutschpop-Megashow über die Passionsgeschichte wohl eher einem Fall in den ohnehin ziemlich gebeugten Rücken gleich. Doch was ist eigentlich das Problem daran? Das sollte allein aus der Beschreibung des Events hervorgehen.

Plötzlich in Essen

Stellen wir uns eine Zeitreisende vor, die aus dem Jahr 2019 kommend unversehens vor eine
große Bühne in der Essener Innenstadt am Abend des 13. Aprils 2022 geschleudert wird. Mit
dem ersten Atemzug inhaliert sie den Hauch der Ergriffenheit, der durch die sommerreife
Abendluft wabert und fragt sich verwundert, warum bloß alle so gerührt sind, wo doch die
Bühne ganz klar wie ein erigierter Phallus aussieht. Um der Sache auf den Grund zu gehen,
lauscht sie dem Geschehen gespannt, das ihr die sündigen Gedanken sogleich aus dem Kopf
treibt. Nicht etwa, weil sie sich im Angesicht der Erhabenheit des Dargestellten der eigenen
niederen Vorstellungen schämt, sondern weil sich vor ihr die viel größere Sünde aufbaut (die
RTL-Interpretation der Leiden Jesu), der man nur mit dem allerreinsten Gewissen begegnen
kann.

Gott-Schalk

Auf der Stage ein für sein Alter ungewöhnlich frisch aussehender Herr mit langen goldenen
Locken: „Ah, das ist doch der Typ von Wetten, dass… bevor es diesen Unfall gab“ denkt sich
die Zeitreisende. Mit dem Teleprompter noch souveräner umgehend als jede Tagesschaumoderatorin, leitet Thomas Gottschalk (der Name ist hier Programm) in die Passionsgeschichte ein –
allerdings cool und modern: „Heutzutage wäre Jesus bestimmt ein Influencer“. Jaja, die übliche
verquere Anbiederung an den Gegenwartsdiskurs darf nicht fehlen, aber ob Jesus tatsächlich
leicht manipulierbaren Teenagern Geld aus der Tasche für Produkte gezogen hätte, die sie nicht
brauchen, um damit selbst steinreich zu werden, ist auch ohne theologische Vorbildung fraglich. Gespielt wird Jesus von dem Gewinner der ersten DSDS-Staffel, Alexander Klaws, womit Aufstieg und Niedergang ununterscheidbar in eins fallen. Mit ihm tritt eine ganze Riege an A-Promis aus der Fernsehkaste auf den Plan. Oliver Pocher musste leider absagen, obwohl mit
ihm die auch-die-andere-Wange-hinhalten-Predigt Jesu eine ganz andere humanistische
Schlagkraft erhalten hätte. Dafür ist Gil Ofarim als Jünger unterwegs, was jedoch unweigerlich
dafür sorgt, dass man sich ernsthaft fragt, ob das Ganze damals wirklich so passiert ist. Spätestens mit Henning Baum als Pontius Pilatus – bekannt aus der Fernsehserie Der letzte Bulle, wo er vor den glänzenden Augen vieler mittelalter Frauen als einer der noch wenig übrig gebliebenen echten Männer bereits die Justitia walten ließ – ist das Niveau der Aufführung gesichert

Musik aus dem Vorhof der Hölle

Dabei handelt es sich ausgerechnet um ein Musical. Der Heiligkeit der Geschichte würdig, hat
man nur die wahren Perlen deutscher Popmusikgeschichte ausgewählt, was dazu führt, dass
auch unsere Zeitreisende begeistert mitgrölen kann. Gut, ob ein Song der Band von Xavier
Naidoo dem Setting so angemessen ist, erfordert wohl weiteres Nachdenken, aber das ist erstmal egal, denn jedes Musikstück schenkt Liebe, oder wie es der Sänger auf den Punkt bringt:
„wenn ein Lied meine Lippen verlässt, dann nur, damit du Liebe empfängst“. Zwischen den mit
Musik von Ich + Ich, Tokio Hotel und Unheilig (auch hier ist der Name Programm) untermalten
Etappen der Leidensgeschichte, der Narration durch Gottschalk und natürlich den regelmäßigen
Werbeunterbrechungen – die eine neue Folge Der König von Palma für Karfreitag ankündigen
– wird periodisch zum Kreuzzug geschaltet.

Kreuzzug-Cringe

Zwischen den Essener Fassaden schreitet eine Schar engagierter Gläubiger bepackt mit dem
Jesu-Kreuz unerbittlich nach vorne (trotz seiner Neonbeleuchtung schafft es das Kreuz dabei
nicht, die McDonalds und Primark-Logos zu überstrahlen, die die Innenstadt so selig schmücken). Die Moderatorin fragt einen Kreuzträger nach dem anderen, wie er persönlich zum Glauben gefunden habe. Dem sowieso durchgehend dornig stechenden Fremdscham wird durch die
Erzählungen irgendwelcher mystischen Lichtsäulen-Erfahrungen die Krone aufgesetzt. Nach
120 Minuten erreichen die Träger das Ziel des Leidenswegs und der Schmerz versiegt. Nicht
jedoch, bevor uns Henning Baum noch einmal ausdrücklich auf die Höllenqualen so einer Kreuzigung hinweist. Leider erlebt unsere Zeitreisende nicht, wie Alexander Klaws höllenquälend
langsam auf das Neonkreuz geschnürt wird, um in entwürdigender Stellung von dort hinab zu
singen – so viel Feingefühl bringen die Köpfe hinter der Produktion dann doch auf.

Das Feingefühl wird aber sogleich von dem ASMR-ähnlichen Geflüster „Gott, warum hast du mich
verlassen“ in unangenehm erotischer Tonlage untergraben. Am Ende steht der Alexander auf
dem Dach eines grauen, Bürokratie-Betonklotzes, der nicht zu Unrecht als realistisches Substitut für unser aller Himmel fungiert, und singt „Halt dich an mir fest“ von Revolverheld. Mit dem Ausklingen des Songs können die Zuschauer:innen vor den Apparaten, die Beteiligten und die
crowd vor Ort, zu der auch unsere Zeitreisende gehört, endlich loslassen: Sie sind erlöst.

Sakraler TV-Trost

Die Zeitreisende bleibt vollends verwirrt zurück: „Eine christliche Musical-Show mit den Stars
der deutschen Fernsehlandschaft? Eine hippe Neuinterpretation der Passionsgeschichte mit
Brot vom Imbissstand von Reiner Calmund? Ein Judas, der durch den Monsun und hinter die
Welt muss? Wo bin ich hier gelandet?“, fragt sie sich. „Sitzt mittlerweile ein Gegenpapst in
Essen? Oder ist in den letzten drei Jahren bloß eine Menge passiert?“.

Eigentlich sollte Die Passion bereits 2020 aufgeführt werden und wurde dann pandemiebedingt
verschoben, doch sie wäre zu keinem anderen Zeitpunkt als heute denkbar. Die Darbietung von
voraufklärerischem Gedankengut (Stichwort Lichtsäulen-Erfahrung) mit den technischen Mitteln einer aufgeklärten und fortschrittlichen Gesellschaft kann nicht anders verstanden werden, denn als Reaktion auf die bestehenden und bevorstehenden Krisen. Wenn ein neuartiges Virus
den Planeten befällt, ein verbrecherischer Angriffskrieg in Europa herrscht und sich die naturkatastrophalen Konsequenzen des Klimawandels mehren, spendet die kollektive Zuflucht in die Religion Trost. In der Tat ist „eine Menge passiert“ und nicht umsonst werden diese Ereignisse
in der Sendung aufgegriffen.

Eine solche Inszenierung der religiösen Zuflucht in Gestalt einer TV-Großproduktion, die irgendwo zwischen deutscher Schlagershow und amerikanischer Megachurch mit sektiererischen Elementen angesiedelt ist, wäre 2019 dagegen kaum vorstellbar. Egal wie absurd die
Produktion uns erscheint, auf die Zeitreisende muss sie stets ein Stückchen absurder wirken.
Da die Krisen und Katastrophen in Zukunft kaum weniger werden, können wir uns wohl auf
weitere solcher Perfomances gefasst machen. Und wer weiß, während das Event auf Twitter
von einigen durch den Meme-Wolf gezogen wird, verschafft es anderen (mit interessanten Musikgeschmäckern) vielleicht tatsächlich eine Art Entlastung im Angesicht des gegenwärtigen Leidens. Dann wäre auch das Schicksal von TV und Kirche so schnell nicht besiegelt und die
unheilige Allianz der Verdammten entpuppt sich als erlösendes Geschäft für beide Seiten.