You are currently viewing Festgeklebt im Straßenverkehr – Was darf Protest in Deutschland?
Bild: bonnFM

Festgeklebt im Straßenverkehr – Was darf Protest in Deutschland?

Lesezeit: 4 Minuten

Klimaaktivist:innen protestieren überall in Deutschland. Ihre Aktionen gelten als ziviler Ungehorsam. Aber ab wann kann man davon sprechen?

“Klimakleber”, “Pattex-Terroristen”, “Extremisten” – die Medien thematisieren sie ständig und scheinen sich gegenseitig in ihren Bezeichnungen übertrumpfen zu wollen. Gemeint sind die Klimaaktivist:innen der Gruppe „Die letzte Generation“, welche sich in den letzten Monaten immer wieder auf Straßen, Autobahnen und sogar Start- und Landebahnen diverser Flughäfen der Bundesrepublik festgeklebt haben, um vor der Klimakrise zu warnen und ihren Forderungen an die Berliner Klimapolitik Gehör zu verschaffen. Ihre Aktionen werden immer wieder als „ziviler Ungehorsam“ betitelt.

Ziviler Ungehorsam, das klingt mindestens nach einem Kriegszustand oder dem Umsturz des Systems und weniger nach jungen Erwachsenen in Warnwesten, festgeklebt auf einer Straße oder mit Kartoffelpüree und Tomatensuppe bewaffnet im Kunstmuseum.

Die Reaktionen auf die Proteste sind fast genauso vielfältig: Genervte Autofahrer:innen oder Flugreisende, schockierte Kunst- oder Museumsfans und Politiker:innen, die mit den Konsequenzen des Rechtsstaates drohen. Sie alle vereint die Frage: „Dürfen die das überhaupt?“. Protest sei ja schön und gut, aber muss das auf meinem Arbeitsweg, in meinem Kunstmuseum, in meinem Wahlkreis stattfinden? Ist das nicht irgendwie illegal mit Kartoffelpüree um sich zu werfen und Klebstoff auf Straßen zu verteilen?

Die Jurist:innen haben darauf eine relativ schnelle Antwort. Sich auf der Straße festkleben, ist nicht wofür die Straße gedacht ist, es ist also eine zweckwidrige Nutzung und damit verboten. Tatbestände und Strafen müssen dann einzeln vor Gericht entschieden werden. Dabei kommen sie ins Spiel: Denker:innen der politischen Theorie und Philosophie, welche sich seit Jahrhunderten mit Fragen rund um die Ausgestaltung von Demokratien, des Staates und des politischen Miteinanders beschäftigen.

Dabei kommt auch immer wieder die Frage nach der Unterscheidung zwischen Legitimität und Legalität auf. Legal ist dabei alles, was gesetzeskonform zum einfachen Recht ist, also quasi von den Jurist:innen abgenickt wird. Bei der Legitimität wird es etwas komplizierter, denn sie fragt, wie anerkennungswürdig oder rechtmäßig ein Sachverhalt ist. Im demokratischen Rechtsstaat gilt erstmal: Was legal ist, ist nicht automatisch auch legitim und andersrum.

Einer, der sich mit zivilem Ungehorsam beschäftigte, war John Rawls. Er starb 2002 in den USA und galt als Vertreter der liberalen Philosophie. Sein Hauptwerk beschäftigt sich mit Überlegungen zu Gerechtigkeit im demokratischen Rechtsstaat. Eines der Musterbeispiele von zivilem Ungehorsam ist der Moment, in welchem sich Rosa Parks im Bus hinsetze, obwohl ihr das dem Gesetz nach verboten war. Es war also illegal, aber niemand würde dies aus heutiger Sicht als illegitim bezeichnen. So auch John Rawls, den die Bürgerrechtsbewegungen in den USA prägten. Seine Definition erklärt, ziviler Ungehorsam sei eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber gesetzwidrige Handlung mit dem Ziel der Änderung der Regierungspolitik. Für diese Definition gibt es allerdings einige Bedingungen. 

Der zivile Ungehorsam muss sich gegen Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten. Außerdem müssen bereits alle Möglichkeiten, einen Einfluss auf die Politik zu nehmen, ausgeschöpft sein und – ganz wichtig -, die Verfassung darf nicht gefährdet werden. Der Kern des zivilen Ungehorsams ist es also, gezielt bestimmte Rechtsnormen zu verletzen, ohne dass diese komplett verändert oder sogar gestürzt werden. Wichtig ist aber auch, dass diese Regelverletzungen symbolisch sind, also nur gewaltfreie Mittel des Protests eingesetzt werden. Das heißt, niemand darf physisch oder psychisch verletzt werden.

Wenn wir ins Grundgesetz schauen finden wir keinen Artikel und kein Gesetz welches einfach Ja oder Nein sagt. In verschiedenen Filmen wird oft Artikel 20, Absatz 4 im Grundgesetz zitiert, wenn es um Widerstand geht. Der besagt, dass alle deutschen Recht auf Widerstand haben, um die Verfassung zu verteidigen. Das sei aber eher symbolischer Natur, sagt Prof. Dr. Klaus Gärditz, Jurist an der Uni Bonn. Dieser sei sinnlos, denn wie soll etwas in der Verfassung greifen, wenn die Verfassung beseitigt wird.

Vielmehr prüfen Gerichte in jedem einzelnen Fall, inwiefern der Protest legal oder illegal ist. Letzteres natürlich vor allem bei gewaltsamem Widerstand oder der Inanspruchnahme fremder Rechte. Im Fall der „Klimakleber“ wird dann also einzeln geprüft: Was sagt das Straßenrecht? Greift die Versammlungsfreiheit? Liegt ein Nötigungstatbestand vor und so weiter. Gesetz ist also Gesetz und da müssen sich alle dran halten. Klingt erstmal nach einer deutlichen Antwort auf ein „Dürfen die das?“. Gesetze sind aber nicht statisch und Tatbestände und deren Einstufungen sind etwas, das immer wieder neu geprüft und neu gedacht wird. Theoretisch heißt das, die demokratische Öffentlichkeit verhandelt das Gesetz neu.  Praktisch bedeutet dies, wie gehen die Bürger:innen mit der Rechtsprechung um und was sagen Instanzen wie das Bundesverfassungsgericht? 

Wir lernen von Rawls, dass der zivile Ungehorsam eine Prüfung für den „Reifezustand der Demokratie“ sein kann. Die Frage lautet also, bis wann wir die Pflicht haben, uns an Gesetze zu binden.  Jeder hat auch die Pflicht und gleichzeitig auch die Freiheit, Widerstand gegen Ungerechtigkeit zu leisten, denn auch legale Regelungen können illegitim sein.

Robin Celikates dagegen definiert den zivilen Ungehorsam als Herausforderung des Status quo. Celikates ist 1977 geboren und ist Philosoph an der FU Berlin. Er geht von einem grundlegenden Demokratiedefizit aus, dem ziviler Ungehorsam eine konstituierende Macht geben kann. Die Frage, ob etwas legitim ist, gehört für ihn also zum politischen Diskurs dazu. Wichtig ist, dass der Protest gewaltfrei abläuft, denn wer zivilen Ungehorsam ausübt, kann nur Teil der Bevölkerung, nicht aber der Regierung sein und sollte deshalb auch niemanden verletzen.

Damit beschäftigt sich auch Jürgen Habermas. Er wurde 1929 in Düsseldorf geboren und ist einer der bekanntesten deutschen Philosophen und Soziologen. Er gehört zur sogenannten zweiten Generation der Frankfurter Schule. Damit ist eine Gruppe von Philosophen gemeint, welche unter anderem Einfluss auf die studentischen Protestbewegungen der 1968er Jahre nahm und diese prägte.

Der CSU-Politiker Dobrindt sprach davon, dass die Entstehung einer “Klima-RAF” verhindert werden müsse, nicht zuletzt Jan Böhmermann griff diese Aussage auf und machte klar, der Vergleich gehe zu weit. Dem würde wahrscheinlich auch Habermas zustimmen. Er machte schon in den 1980ern deutlich, dass es sehr wohl einen Unterschied zwischen kriminellen Handlungen und zivilem Ungehorsam gebe. Proteste zu Umweltschutz gab es auch damals schon, genauso wie verschiedene Formen der Friedens- und Frauenbewegung. Diese Gruppen haben alle etwas gemeinsam: Genauso wie die „Letzte Generation“ sind sie heterogen und weit in der Bundesrepublik verstreut. Sie können nicht einfach verboten werden wie beispielsweise eine Partei, da sie Teil einer reifen politischen Kultur sind. 

Die Legalität von Klimaprotesten ist also schnell geklärt. Wer Kartoffelbrei auf einen Van Gogh wirft, beschädigt ein Gemälde und muss sich wahrscheinlich einer Anzeige vor Gericht stellen. Wie das jeweilige Gericht dann entscheidet hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, also wie schwer ist der Strafbestand, wie ist das Motiv und so weiter. Die Frage bleibt ob die Tat legitim ist. Die „Letzte Generation“ spricht vom Klimanotfall, sie sagen wir befänden uns im Krieg und fragt „was, wenn die Regierung das nicht im Griff hat?“. Für sie ist Festkleben im Straßenverkehr also die letzte Möglichkeit, vor dem Klimawandel zu warnen und Menschen zum Zuhören und Handeln zu bewegen. Letztendlich liegt es an allen Bürger:innen, die Protestaktionen nach ihren eigenen Moral- und Wertvorstellungen zu prüfen und sowohl privat als auch in der demokratischen Öffentlichkeit zu entscheiden, ob sie diese als legitim ansehen.