Der Linkenpolitiker Gregor Gysi war am Donnerstagabend zu Gast an der Uni Bonn und diskutierte über Religion, Toleranz und Erfahrungen.
Der Hörsaal Zehn ist bis zum letzten Platz gefüllt. So voll ist kaum eine Vorlesung in diesem Hörsaal, warum also die vielen Menschen? Vermutlich weil ein politisches Urgestein erwartet wird. Gregor Gysi: Bundestagsmitglied seit 2005, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der Linken und Parteivorsitzender der Partei der Europäischen Linken. Das Thema Religion scheint dem Politiker, der sich selbst lieber als Heide anstatt als Atheist bezeichnet, eigentlich nicht vertraut zu sein. Zunächst musste er damit auch nicht vertraut sein.
„Ich hab festgestellt, dass ich preußischer bin, als ich dachte.“
Fast eine halbe Stunde lang wurden zunächst Allgemeinplätze besprochen. Dass Katholiken wegen der Beichte und der damit einhergehenden Befreiung von Sünden humorvoller seien als Protestanten. Dass Gysi zu Beginn seiner politischen Laufbahn in der Bundesrepublik mit Ablehnung zu kämpfen hatte und dass er bereits sechs Leben geführt habe. Besonders betont er das fünfte und sechste Leben, die beide nach dem Mauerfall stattgefunden hätten. Das fünfte Leben sei das in Ablehnung gewesen. Das sechste – das bis Heute andauere – das Leben in Akzeptanz, das Gysi deutlich lieber ist als das fünfte. Akzeptanz beschreibt die Atmosphäre in Hörsaal Zehn nicht treffend. Vielmehr hängen die Zuhörer dem Politiker an den Lippen, beklatschen politische Aussagen und humorvolle Äußerungen. Dass das eigentliche Thema, Religion und die Möglichkeiten oder Gefahren die sie bietet, bis jetzt nicht behandelt wurde, scheint niemanden zu stören. So wenig, dass Prof. Dr. Meyer-Blanck Herrn Gysi sogar noch auf eine Idee anspricht, die Gysi mit einem Freund zusammen einmal gehabt hat. Um einen kalten Putsch der eingespielten Politik in der DDR geht es, und um die absurde Einfachheit dieser Idee. Das Hauptthema bleibt bis jetzt hinter Anekdoten und persönlichen Fragen zurück und gänzlich unbehandelt.
„Ich glaube zwar nicht an Gott, aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft.“
Um 180 Grad ändert sich der Kurs des Gesprächs, als Meyer-Blanck dann die Frage stellt, ob Religion nur etwas für moralisch unvollkommene Menschen sei. Die Antwort Gysis ist so einfach wie ernüchternd. Denn seiner Meinung nach ist fast jeder Mensch moralisch unvollkommen. Ebenso sei der Wettkampf im Kapitalismus nicht mit Moral zu erklären. Es sei an den Religionen, allgemeingültige moralische Normen aufzustellen, weil Religion über die ganze Welt verbreitet sei. Die Zuständigkeit des Papstes, erklärt er, sei nicht an Staatsgrenzen gebunden. Selbst gibt er zu, dass Religion aus diesem Grund auch ihn geprägt hätte. Jedoch warnt Gysi auch vor einer Religion mit zu viel Macht. Dies hätte in der Geschichte nicht funktioniert und würde heutzutage die gleichen Gefahren bergen. Nach diesem Statement fragt Frau Dr. Marose nach der schwindenden Identität und Enthusiasmus der Christen.
„Die Kirchen sind irgendwann stehen geblieben.“
Gysi vergleicht den Fehler der Kirchen an dieser Stelle mit dem der Kommunisten, und geht damit auch wieder auf linke Politik ein. „Die Kirchen sind irgendwann stehen geblieben“, behauptet er und sieht darin einen Grund für eine Kirche, der die jungen Mitglieder weglaufen. Menschen könnten nicht in Muster gezwungen werden; vielmehr solle man die Leute nehmen wie sie sind und auf sie eingehen. Gysi wirbt für Toleranz gegenüber dem Individuum. Die Kirchen müssten aber nicht nur gegenüber dem Menschen mehr Toleranz zeigen, sondern auch vereinigt dastehen. So würde Papst Franziskus stark kritisiert, obwohl Gysi selbst viele Berührungspunkte zwischen seiner Politik und den Ansichten des Papstes sieht. Vor allem unterstützt er den Papst in der Ansicht über ungerechte Wirtschaft, die arme Länder im Handel stark benachteilige. Bei den vielen Berührungspunkten, die Gysi zwischen linker Politik und den Kirchen sieht, bleiben andere Religionen zurück. Islam, Hinduismus oder Judentum werden in ihrer Rolle nicht angesprochen, obwohl das Thema des Abends „Religion – Ressource oder Bedrohung?“ und nicht „Kirche – Ressource oder Bedrohung?“ lautet. Trotz des christlichen Hintergrundes des veranstaltenden Instituts bleibt die Sicht auf Religionen zu lange die Sicht auf die christliche.
Ist Religionsunterricht sinnvoll?
Endlich spricht Prof. Dr. Meyer-Blanck das Allgemeingültige, das gesellschaftlich und politisch Relevante an: den Religionsunterricht. Ist die Verankerung im Grundgesetz sinnvoll? Wieder gibt Gysi sich tolerant. Er hätte nichts gegen einen Religionsunterricht, dieser solle aber auf freiwilliger Basis stattfinden. Wichtiger sei ein Unterrichtsfach, das alle großen Religionen und Weltansichten behandele. Dies würde nicht nur das grundlegende Wissen über die Eigenheiten vieler Religionen und Kulturen garantieren, sondern auch zu größerer Toleranz gegenüber Religionen führen. Gysi tritt bei der Diskussion als gewohnt weltoffener und kritischer Gesprächspartner auf, der es versteht, Berührungspunkte von Religion und Politik darzustellen, warnt aber auch vor einer zu politischen Religion. Dies tut er aber nicht, ohne auch als scheinbar werbender Politiker die Verantwortung und Pflichten seiner Partei mit in das Gespräch einfließen zu lassen. Erst spät werden in dem Gespräch gesellschaftlich relevante und polarisierende Themen über Religionen im Allgemeinen angesprochen. Was denkt Gysi über Söders Beschluss, in Behörden Kreuze aufzuhängen? Wie hat sich das Bild des Islams in der Gesellschaft verändert? Ist die Diskussion über Religionen im neuen Bundestag eine andere? Diese Fragen wären für das Gespräch ebenfalls relevant gewesen. In einem Interview nach der Veranstaltung stellte Gysi sich diesen Fragen.