Eine neue Ära von Taby Pilgrim ist eingeleitet – beziehungsweise stecken wir schon mittendrin. Trotz der Aussage „Ich werde niemals live spielen“ gibt es jetzt Toursupport für Fatoni und Juse Ju, eine Fahrt im Nightliner. Neues Logo, neues Image, neuer Sound.
Und wie der klingt, das hört man auf ihrem zweiten Solo-Album „Nest“. Ein großer Unterschied zu ihrem Debut „Pilgerreise“, das Taby heute selbst nicht mehr hören oder schreiben würde, weil es ihr zu oberflächlich ist. Stattdessen setzt sie auf sehr tiefschürfende Themen, denn in ihrem neuen Album geht es um Bipolarität. Doch nicht die von irgendwem, sondern von ihr selbst, denn sie nimmt die Diagnose ihrer Therapeutin zum Anlass, um 12 Songs zu schreiben, die verschiedene Aspekte ihrer psychischen Krankheit repräsentieren.
Wie klingt Bipolarität?
Die klassische bipolare Störung zeichnet sich durch einen Wechsel von Manie und Depression ab. Also übersetzt: “Ich bin die Größte” und „Ich bin das Allerletzte“ in einem stetigen Wechsel. Und getreu des Krankheitsbildes haut Taby in einigen Songs richtig auf die Kacke und stimmt in anderen Songs melancholische Töne mit tiefschneidenden Lyrics an. Das Album hat also zwei Seiten. Und die sind auch sehr strikt getrennt, denn während Taby in der ersten Hälfte mit energetischen Representer-Songs auftrumpft, läutet das Interlude einen Stimmungswechsel ein und die restlichen sechs Tracks fallen in die Kategorie Depression.
Wer Taby schon lange kennt, den mag gerade das vielleicht irritieren, denn sie hat sich in der Deutschrap Szene (und auf Twitter!) einen Namen durch lustige Wortspiele und clevere Kettenreime gemacht. Auch davon gibt es auf ihrem Album noch Überbleibsel, beispielsweise auf dem Song „Sexualisiert mich“, dessen Schreibprozess laut Taby auch am meisten Spaß gemacht hat. Die ruhigen Songs ist man von ihr nicht gewöhnt, allerdings hat sie solche auch schon immer geschrieben – nur eben nicht released. „Wegen dieser Angst, als wehleidig wahrgenommen zu werden. Ich hab schon mit 9 angefangen Lieder zu schreiben, die auch durchaus in die Richtung gingen.“ Nach langer Therapie und einer Zeit als Person der Öffentlichkeit ist es ihr aber egaler geworden. „Es ist mir wichtiger geworden, das zu machen, was ich selber hören würde.”
Der Parasit im Kopf
Ein zentrales Thema, das intensiv auf ihrem Song „Nimmersatt“ behandelt wird, ist das Bild des Parasiten im Kopf. Auch deswegen krabbeln auf dem Cover und der Vinyl des Albums viele Tausendfüßler umher. „Als ich mich für den Namen Nest entschieden hab, habe ich das irgendwem erzählt und die Person meinte ‚Oh voll schön‘, weil die halt an so ein Vogelnest gedacht hat, so ein warmes Zuhause. Und ich meinte so ein ekeliges Insektennest“. Nichtsdestotrotz ist das „Nest“ ein Zuhause, auch für den Parasiten, der in ihrem Kopf wohnt. Es ist kein „Eindringling“, sondern er gehört einfach dazu. Deswegen würde Taby ihn auch nicht missen wollen. „Er ist ein großer Teil meiner Persönlichkeit, aber kein großer Teil meiner Identität.“ Und selbst wenn sie die Chance hätte, würde sie den Parasiten nicht entfernen. Weil sie gelernt hat, damit umzugehen. Und auch, weil er ein Motor für den Kreativen Prozess ist.
„Man hat ja immer dieses stereotypische Bild vom gequälten Künstler. Ich glaube da aber wirklich dran. Weil ich kenne niemanden, der künstlerisch aktiv ist, der nicht depressiv ist oder irgendwelche Traumata hat. Ich glaube das ist ein inhärenter Bestandteil von Kunst.“
Taby im Interview
Taby zieht all ihre Kunst aus dieser Krankheit. Und deswegen ist die Therapiemaßnahme des „Gedanken niederschreiben“ auch zu einem kompletten Album geworden. „Ich hatte eben diese Zwei-Teil-Idee, die ich unbedingt umsetzen wollte. Dann hatte ich diese Idee ‘Was ist denn, wenn ich alle Songs einem Symptom zuordne?‘“. Daraus sind die zwölf Songs entstanden, die Bipolarität repräsentieren.
Am Besten werden die beiden Phasen in den Songs „Kalte Schulter“, als egomanischer Representer-Track, und „Schämst du dich nicht“, als ruhige, unangenehm selbstkritische Ballade verdeutlicht. Letzterer ist auch der persönlichste Song, da er als einer der einzigen auch wirklich in einer depressiven Phase geschrieben wurde. „Bei dem Song war es mehr so ein emotionales Rausschreiben von Gedanken. Und danach sortieren, als ich wieder klarer war.“ Der Text war auch erst gar nicht als Song geplant. Der Struggle mit starken Emotionen im Text tritt aber nicht nur dort auf. Auf der Interlude „Keine Angst“ hat Taby ganze zwei Strophen weggestrichen, weil sie ihr in der Retrospektive wie „Rumgeheule“ erschienen.
Beatproducing auf einem neuen Level
„Nest“ hat einen großen künstlerischen Anspruch – nicht nur auf einer textlichen Ebene, sondern auch bei den Beats hörbar. Wo es bei „Pilgerreise“ noch Beats aus der Dose gab, ist hier alles von Hand produziert. Dabei muss sich Taby auch immer wieder in ihrem Perfektionismus stoppen. „Ich muss jetzt einfach sagen ‚Jetzt bin ich fertig. Jetzt lasse ich das so wie es ist‘ – das fällt mir sehr schwer“. Deswegen machen ihr gerade die komplizierten Beats, mit vielen Geräuschen und Tempowechseln am meisten Spaß, z.B. vom Song „Nimmersatt“. „Ich liebe diesen Sound. Dieses experimentelle, das auch so ein bisschen weird ist und ein bisschen zu dark.“ Und dieser Stil soll auch in ihren zukünftigen Projekten Einzug finden.
Außerdem hatte sie bei diesem Album Unterstützung von einem der besten seines Fachs. Rapper und Beatproducer Peat ist einer der Freunde, mit denen Taby gerne featured und nachdem sie auf seinem Album Backup Vocals gemacht hat, taucht er nun auf „Nest“ als Beatproducer auf. Und obwohl sie das Beatsbauen noch nicht ganz gemeistert hat, konnte sie durch dieses Album auch ihre Fähigkeiten ausbauen.
Ein Konzeptalbum in der Zeit von Spotify
Es lohnt sich, „Nest“ komplett zu hören. Das Album selbst ist wie ein Loop aufgebaut, der erste Song schließt sich an den letzten an. Die Tracks haben alle einen Bezug zueinander und auch hörbare Übergänge. Dass viele Fans sich auf Spotify wahrscheinlich nur ihre Lieblingslieder rauspicken, stört Taby nicht wirklich. Unter anderem, weil sie das selbst so macht. Da sie aber auch gar nicht als Vollzeitkünstlerin arbeiten will, ist das auch kein Problem. Denn Sounddesign und Synchronsprechen liegen ihr sehr am Herzen und sollen in der Zukunft eher wieder mehr Platz in ihrem Herzen einnehmen. „Ich glaube, wenn man zu tief in der Musikbranche drin ist, kann man relativ schnell in Gefilde abrutschen, die nicht gut für die Psyche sind. Da möchte ich mich von fernhalten.”
Wie geht es nun weiter? Nach dem Album kommt eine kleine Tour, dann erstmal eine Schreibpause. Es stehen aber noch genug Projekte in den Startlöchern, unter anderem die Arbeit mit dem Kollektiv „Das Internet“. Die Releaseparty für „Nest“ findet am 02.05. im Helios in Köln statt.