So sollte man wahrscheinlich Jeremias Song „Egoist“ umdichten, um den aktuellen Skandal der Band rund um ihren Fotografen zu beschreiben. Über Intransparenz, enttäuschte Fans und die Frage, ob man Musik und Künstler*in trennen kann – und warum ich mich letztlich entschieden habe, für meine Werte einzustehen, auch wenn es schwerfällt.
Die erste Version des Artikels wurde am 14.11.2024 veröffentlicht
Letzte Woche schrieb ich noch einer Freundin auf WhatsApp wie “mega hyped” ich auf das neue Jeremias Album sei, das nächstes Jahr im März erscheint. Schließlich verbinde ich mit der Musik der vierköpfigen Band aus Hannover mega viel. Ich höre Jeremias seit ihren 2019 und 2020 erschienen EPs Du musst an den Frühling glauben und alma, habe in den letzten Jahren die Band insgesamt fünfmal live gesehen und mit ziemlicher Sicherheit werden einige Songs der Band in den oberen Rängen meines Spotify Wrappeds landen. Zwar möchte ich nicht übertreiben, aber ich bin mir ziemlich sicher, im Oktober und November fast die Hälfte aller Streams ihres Songs Wenn Blätter fallen von ihrer ersten EP ausgemacht zu haben.
Ein neues Album klang im wahrsten Sinne wie Musik in meinen Ohren. Wichtig ist an dieser Stelle aber das Präteritum. Denn “mega hyped” bin ich mittlerweile nicht mehr. Eher nur noch mega enttäuscht.
Ich glaub‘, mein Vorbild, das war immer nur der Wind
Für alle, die das Glück haben, nicht chronically online zu sein wie ich und es irgendwie geschafft haben, vom Skandal der Band nichts mitzubekommen, hier eine Zusammenfassung der Ereignisse:
Am 7. November veröffentlichte Jeremias das Musikvideo zu ihrer neuen Single Sag mir was ich nicht weiß. (Leider) ein ziemlicher Banger, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, welcher Name an erster Stelle in den Danksagungen des Videos auftaucht. Es handelt sich um den Fotografen der Band, dessen Name an dieser Stelle nicht genannt werden darf. Grund hierfür ist, dass bonnFM sich an die Richtlinien der Verdachtsberichterstattung halten muss, damit wir als Campusradio nicht in rechtliche Schwierigkeiten geraten.
Denn bereits im August wurde dem Fotografen vorgeworfen, Machtmissbrauch in Form von Manipulation, der Ausnutzung von Safer Spaces und Gaslighting betrieben zu haben. Nach den Vorwürfen im August kündigte Jeremias an, die Zusammenarbeit mit dem Fotografen beenden zu wollen. Umso heftiger fielen die Reaktionen in den Kommentarspalten des Musikvideos aus, als klar wurde, dass er nun doch wieder Teil des Teams der Band ist.
In den Kommentaren gab es nun Anschuldigungen, der Fotograf habe Fans persönlich oder über soziale Medien kontaktiert und ihnen berufliche Chancen sowie Nähe zur Band in Aussicht gestellt. Dabei soll es auch zu „einvernehmlichen Intimitäten“ gekommen sein (Quelle: hoert.betroffene auf Instagram, Post vom 13. November). Weiterhin wurde in sozialen Medien behauptet, der mutmaßliche Täter habe Nacktfotos im Austausch gegen Gästelistenplätze verlangt. Diese Aussage wurde jedoch später von den betroffenen Personen nicht bestätigt.

Die erste Reaktion von Jeremias auf den Shitstorm? Statt sich zumindest in irgendeiner, wenn auch vermutlich geheuchelten Form, solidarisch zu zeigen, wurde sich für ein unpersönliches Statement in einer Instagram Story entschieden. Dunkel, in viel zu kleiner Schrift, kaum lesbar und aufgrund der verschachtelten Formulierungen wirkt es wie von ChatGPT höchstpersönlich verfasst.

Wer kein Bock hat – ich entschuldige mich ausdrücklich nicht für meine Ausdrucksweise – den Scheiß zu lesen, hier die Kurzfassung: Die Band stellte sich im ersten Moment auf die Seite des mutmaßlichen Täters.
Im Statement heißt es zwar: „Wir nehmen das Thema sehr, sehr ernst und haben umgehend auf diese Vorwürfe reagiert und die Zusammenarbeit vorerst beendet, da wir uns klar von (…) Manipulation und systematischem Machtmissbrauch distanzieren.“ Das klingt im ersten Moment wie der richtige Schritt – aber leider endet der Text an dieser Stelle hier nicht.
„Aufgrund der Entwicklungen im Dialog (…) und der betroffenenorientierten Aufarbeitung der Vorwürfe sind wir (…) zu dem Entschluss gekommen, die Zusammenarbeit mit der verantwortlichen Person wieder aufzunehmen. Wir möchten alle Teil der Lösung sein und sind fest davon überzeugt, dass diese zweite Chance eine Bedeutung hat (…).“
Statt klare Grenzen zu setzen, will Jeremias sich für eine „Fehler- und Kritikkultur“ einsetzen und hält eine „zweite Chance“ für gerechtfertigt.
Heißt: Es wurde absichtlich um den Kern des Problems herum geredet und dazu auch noch ein mutmaßlicher Täter geschützt. Und das bei einer Fanbase, die überwiegend aus FLINTA* besteht und auf feministische Werte setzt.
Alles bleibt so, wie es ist, das ist gut, doch nichts für mich
Das Statement hat mich als Fan schockiert, noch mehr entsetzt bin ich aber im Nachgang über meine eigene Reaktion. Denn das Verhalten der Band hat mich zwar enttäuscht und fassungslos gemacht, im ersten Moment habe ich es aber einfach hingenommen. Denn mein erster Gedanke war tatsächlich: „Scheiße, ich will eigentlich nicht damit aufhören, die Musik zu hören.“ Schließlich waren die Konzerttickets für dieses und nächstes Jahr schon gekauft und ich habe mich aufrichtig auf die Tour und das neue Album gefreut. Ich wollte und konnte das nicht sofort aufgeben. Und ich schäme mich dafür.
Es nervt mich, dass ich die Musik so gerne mag, dass es erst eine Freundin brauchte, die laut zu mir sagte: „Boah Luise, verbrenn einfach die Karten“, damit ich überhaupt ernsthaft darüber nachdenke. Dass ich mich selbst erst hinterfragen musste, obwohl die Vorwürfe gegen den mutmaßlichen Täter so heftig sind, macht mich wütend.Nicht nur, wenn auch besonders, auf die Künstler, sondern vor allem auf mich selbst – weil ich Musik über meine eigene Wertevorstellungen stelle.
Und das, obwohl ich je länger ich über den ganzen Skandal nachdenke, mich alles noch mehr aufregt. Besonders die Tatsache, wie die Band reagiert hat. Es wäre schlimm genug gewesen, hätte Jeremias die ganze Sache einfach totgeschwiegen. Aber dann noch ein Statement zu posten, bei dem sich jede*r fragt, wer zum Teufel das vom Presseteam der Band so durchgewunken hat, ist wirklich ein Schlag ins Gesicht einer Fanbase, die überwiegend aus FLINTA*-Personen besteht und auf feministische Werte setzt.
Natürlich könnte man jetzt in diesem Text lange darüber reflektieren, ob man Kunst und Künstler*in trennen soll oder nicht, aber die Antwort ist eigentlich ganz einfach: Nein, sollte man nicht.
Auch wenn manche behaupten, Kunst könne losgelöst von der Person betrachtet werden, steht für mich fest, dass Musik – wie jede andere Ausdrucksform, diesen Text eingeschlossen – stets auch Überzeugungen und Haltungen widerspiegelt. Selbst wenn man von dem Standpunkt ausgeht, dass das künstlerische Schaffen nicht durch die eigenen Wertevorstellungen beeinflusst wird: Indem man problematisches Verhalten ignoriert und weiterhin die Musik hört, Konzerte besucht und Merchandise kauft, unterstützt man ein System, das Täter schützt und kritische Themen unter den Teppich kehrt.
Es tut weh, jetzt zu geh’n
Mittlerweile hat die Band eine Woche nach der ersten Stellungnahme, am 14. November, ein zweites Statement gepostet. Dieses Mal sogar als lesbaren Instagram Post mit mehreren Slides, nicht nur als Statement in einer nur 24 Stunden zu sehenden Story.

Erst nach den neuen Details – viel zu spät – und nach missglücktem erstem Statement, trennt sich Jeremias von ihren Fotografen. Die Band entschuldigt sich für ihr Verhalten und nimmt das as Musikvideo zu Sag mir was ich nicht weiß offline. Mittlerweile werde mit der Agentur Same But Different zusammengearbeitet, deren Fokus Diversität und Gleichstellung sei. Es muss an dieser Stelle aber gesagt werden, dass das Statement jedoch nicht erwähnt, dass Same But Different ebenfalls auf die Bewältigung von Shitstorms bei Künstler*innen spezialisiert ist. Die Agentur hat inzwischen alle entsprechenden Spuren dazu im Netz verwischt. Für diesen Artikel hatte ich jedoch bereits im Vorfeld einen Screenshot eines entsprechenden Beitrags auf dem Instagram-Kanal der Agentur @diversitymanagementberlin angefertigt.

Versteht mich nicht falsch: Es ist wichtig, dass die gesamte Situation nun professionell aufgearbeitet wird. Die Band hat eigens eine E-Mail-Adresse für Betroffene eingerichtet (hoert.betroffene@gmail.com) und bietet ihnen über den Instagram-Kanal @hoert.betroffene eine Plattform. Es wird an Lösungen für mehr Transparenz und bessere Kommunikation gearbeitet. Bestehende Strukturen werden reflektiert, und neue sollen geschaffen werden, um sichere Räume zu fördern. Den Betroffenen wird zugehört und ihnen wird Glauben geschenkt, auch mit einem Appell an die Branche, dasselbe zu tun und Missstände offen anzusprechen. Das ist gut, aber auch nur das Mindeste, was die Band tun kann. Auch wenn in den neuen Stellungnahmen klargestellt wird, dass die bisher gemeldeten Betroffenen keine Nacktfoto-Anfragen erhalten haben und die Band von solchen Vorwürfen nichts gewusst haben will, steht der Machtmissbrauch immer noch im Raum.

Denn das alles ändert nichts daran, dass Jeremias sich bewusst dazu entschieden haben, die Zusammenarbeit mit dem Fotografen wieder aufzunehmen. Es erklärt auch nicht, warum im ersten Statement Informationen zurückgehalten und der mutmaßliche Täter geschützt wurde.
Viel schlimmer wär’s aber zu bleiben
Nach dem zweiten Statement der Band habe ich online Kommentare gelesen, die ich nicht nachvollziehen kann. Für einige scheint nun alles wieder gut. Bei solchen Reaktionen wird mir einfach nur schlecht. Denn an meiner Meinung hat das zweite Statement überraschend wenig geändert.
Ja, es wird schwer sein, die Musik loszulassen, die Konzerte nicht zu besuchen und meinen ehemaligen Lieblingspulli im Schrank hängen zu lassen. Aber genau das ist die Herausforderung. Wenn man für seine Überzeugungen einstehen will, muss man manchmal den Mut haben, loszulassen, auch wenn es wehtut.
Schließlich gibt es wirklich so viele andere Künstler*innen, auch FLINTA*-Artists, die auch tolle Musik machen. Die mir mit ihrer Musik ebenso viel geben, bei denen ich mich genauso verstanden fühle und die Werte vertreten, hinter denen ich stehen kann. Warum sollte ich also weiter eine Band unterstützen, die sich auf die Seite eines mutmaßlichen Täters gestellt hat? Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger schwer fällt mir der Abschied. Denn geht‘s um Feminismus, möchte ich im Gegensatz zu Jeremias keine Egoistin sein.
Nachtrag 20.01.2025
Seit der ersten Veröffentlichung dieses Artikels ist einige Zeit vergangen. Der Vollständigkeit halber möchte ich erwähnen, dass die Band inzwischen ein drittes Statement abgegeben hat – diesmal in einem weiteren Beitrag, der auch in ihrer Story geteilt wurde. Zum ersten Mal sind die Bandmitglieder selbst in einem Video zu sehen, in dem sie ankündigen, dass ihr letztes Konzert 2024 am 19.12. im ZAKK in Düsseldorf stattfinden wird, begleitet von neu erarbeiteten Maßnahmen. Auf www.jeremias.de/awareness finden sich ein Code of Conduct, ein dokumentierter Leitfaden, der Regeln und Erwartungen für respektvolles Verhalten festlegt, sowie Informationen zu einer speziell ausgebildeten FLINTA*-Awareness-Person in der Tourcrew. Auch das versprochene neue Awareness Konzept wird umgesetzt. So soll unter anderem durch QR-Codes auf Konzerten Personen die Möglichkeit bekommen, auch anonym sich an die Awareness Person zu wenden.
Top Kommentar unter dem Post ist momentan “Mehr können sie jetzt auch nicht machen. Das ist doch eine richtig gute Maßnahme”. Und irgendwie verstehe ich diesen Gedankengang, schließlich kann man das, was passiert ist, de-facto nicht mehr ändern.
Allgemein ist die Kommentarspalte äußerst positiv, die allermeisten Fans scheinen der Band einfach vergeben zu haben. Denn was soll die Band schon machen, es einzusehen und Maßnahmen für die Zukunft zu erlassen? Das ist für mich irgendwie bestürzend, gleichzeitig aber wenig überraschend. Irgendwo verstehe ich diesen Gedanken, dass man seiner Lieblingsband einfach verzeihen möchte und das ganze Geld für die Konzerttickets nicht umsonst ausgegeben haben möchte.
Und trotzdem hätte ich mich entgegen der Meinung der meisten anderen in der Kommentarspalte so gar nicht wohl dabei gefühlt, das Konzert in Düsseldorf zu besuchen, für welches ich selbst Karten besaß. Trotz den neu erarbeiteten Maßnahmen. Denn mir ist es schleierhaft, warum so viele Leute das zentrale Problem an der Sache einfach vergessen: Diese Art umfassende Aufarbeitung hätte es vermutlich nie gegeben, hätte die Band nach ihrem ersten, unzureichenden Statement keinen Shitstorm kassiert.
Es wirkt, als sei es der Band in erster Linie darum gegangen, ihren Ruf zu retten. Die ursprüngliche Entscheidung, den Fotografen wieder einzustellen, hätte nie getroffen werden dürfen. Auch wenn sich die ersten Vorwürfe gegen den mutmaßlichen Täter wohl erst später konkretisiert haben, hätte die Band unverzüglich im August mit der Aufarbeitung und Distanzierung beginnen müssen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Erkenntnis, die ich vor kurzem gemacht habe. Demba Sanoh, der neben der bereits erwähnten Runa Hoffmann zweite Gründer der Agentur Same But Different ist, die aktuell für die Band die Aufarbeitung des Skandals übernimmt, hat nachweislich in der Vergangenheit mit dem mutmaßlichen Täter zu tun gehabt. Im Netz gibt es ausreichend Belege dafür, dass Sanoh im Rahmen seiner Tätigkeiten für das Reeperbahnfestival 2022 von von dem ehemaligen Jeremias-Fotografen porträtiert wurde.
Außerdem geht aus mehreren Blog-Beiträgen hervor, dass ein gewisser „Demba“ als Tourmanager für die Band Von Wegen Lisbeth tätig war. Jener Band, die ebenfalls mehrfach die Dienste des ehemaligen Jeremias-Fotografen in Anspruch nahm. Wenn es sich bei dem Tourmanager um „Demba Sanoh“ handeln sollte, hinterlässt dies zumindest bei mir ein ungutes Gefühl. Gab es wirklich niemanden, der die Aufarbeitung des Falls hätte übernehmen können, der nicht bereits persönliche Verbindungen zu der betroffenen Person hatte?
Ich hab‘ verstanden und ich lass‘ sie endlich geh’n
Diese Ereignisse unterstreichen für mich umso mehr, dass Machtmissbrauch in der Musikbranche ein strukturelles Problem ist. Wie viele ähnliche Skandale bleiben wohl im Verborgenen? Natürlich trägt nicht nur Jeremias als einzelne Band die Verantwortung. Das Problem ist tief verwurzelt und systemisch bedingt.
Man muss sich nur umsehen: Selbst Bands wie Rammstein füllen trotz heftigster Machtsmissbrauchsvorwürfe weiterhin riesige Arenen. Damit möchte ich nicht ausdrücken, dass beide Skandale gleich schwer wiegen, aber es scheint oft erschreckend wenig zu brauchen, um vergeben zu werden – oder zumindest, um wegzusehen.
Die Bereitschaft vieler Fans, Künstler*innen blind zu vertrauen und nach einem gut gemachten PR-Statement Fehlverhalten zu ignorieren, macht mir ehrlich gesagt nur eine Sache: Angst. Und lässt mich mit der Frage zurück, was erst passieren muss, damit eine Künstler*in in der Musikbranche wirklich keine zweite Chance mehr bekommt.
Wenn ihr selbst betroffen seid oder jemanden kennt, der sexuellen Missbrauch erlebt hat, gibt es verschiedene Anlaufstellen, an die ihr euch wenden könnt, unter anderem:
Telefonseelsorge: 0800 111 0 111
Themis Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt e.V.: https://themis-vertrauensstelle.de
Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen: 116 016
Hilfetelefon Gewalt gegen Männer: 0800 123 99 0
Hilfetelefon sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530
Links:
Zweites Statement der Band: https://www.instagram.com/p/DCVCT0donu-/?igsh=azJmZWtvb25ieDNj
Drittes Statement der Band: https://www.instagram.com/share/BAI9R-6o2m
Awareness Konzept der Band: https://www.jeremiasmusik.de/awareness
Instagramaccount der Betroffenen: https://www.instagram.com/hoert.betroffene?igsh=MXdpNHV6MDlyOHBveg==
