Getreu seinem diesjährigen Motto hat der Eurovision Song Contest am vergangenen Samstag versucht, Brücken zu bauen. Dabei hat er aber vor allem übersehen, dass die meisten Europäer inzwischen viel lieber mit dem Flugzeug unterwegs sind.
Als 1975 die pfälzische Röhre Joy Fleming, die seit ihrer Geburt den weitaus unrockigeren Namen ‚Erna Liebenow‘ trägt, am Eurovision Song Contest teilgenommen und mit fliegenden Fahnen und 15 Punkten einen 17. Platz nach Hause brachte, geschah dies mit einem Beitrag, der ausgerechnet den Titel „Ein Lied kann eine Brücke sein“ trug. Am vergangenen Samstag lautete das Motto des Eurovision Song Contests dann endlich wirklich „Building Bridges“ – Brückenbauen. Oder kurzum: Gesungene Globalisierung in einem vollständig unpolitischen Wettbewerb.
Wie unpolitisch dieser dann wirklich ist, sieht man daran, dass niemand die Notwendigkeit darin sieht, ein Statement zu politischen Verhältnissen in Teilnehmerländer wie Aserbaidschan oder Russland zu verfassen, die bärtige Frau Wurst als symbolträchtiges Element aber auch nicht missen möchte. Aber fangen wir vorne an.
In den letzten 50 Jahren hat sich nicht viel verändert
Ein kurzer Rückblick – 20.03.1965: Im Auditorium von Neapel findet der zehnte Eurovision Song Contest, der – den Landessprachenregelungen des Wettbewerbes gemäß – in diesem Jahr noch „Gran Premio Eurovisione della Canzone“ heißt, statt. Für Österreich wird an diesem Abend ein junger Mann, der die Veröffentlichung seines ersten Albums (von – Spoiler Warnung – insgesamt 50 Langspieltonträgern) noch vor sich hat, für Österreich den vierten Platz belegen. Sein Name: Udo Jürgens. Gewinnerin des Abends wird die Luxemburgerin France Gall mit dem Stück „Poupée de cire“, komponiert von Pornosoundtracklegende Serge ‚Je t’aime’ Gainsbourg. Für Spanien tritt eine Kandidatin mit dem Namen Conchita an und Deutschland belegt mit einem Titel namens „Paradies, wo bist du?“ – komponiert von Hans Blum, der Mensch, der an Stalkerhymne „Im Wagen vor mir“ die volle Verantwortung trägt – einen mutigen letzten Platz mit 0 Punkten.
ESC – Eine Geschichte voller Nachhaltigkeit
Fünfzig Jahre später sehen die Dinge anders aus: Conchita trägt jetzt Bart, Udo Jürgens hat bis zu seinem Ableben im letzten Jahr 105 Millionen Tonträger verkauft und Deutschland hat ‚Ein bisschen Frieden‘ erst gefeiert, dann verflucht und Lena sei Dank zu Beginn dieses Jahrzehnts auch endlich überstanden.
Der „Grand Prix Eurovision de la Chanson“, der sich mittlerweile als Eurovision Song Contest neuaufzustellen versucht hat, durfte irgendwann feststellen, dass mit der Osterweiterung und dem Zerfall der Sowjetunion viele potentielle Teilnehmer hinzugekommen sind, die sich im Zweifel aus naheliegenden Sympathiegründen gegenseitig gut finden. Ein Effekt, der dem erst 1997 (!) eingeführten Votingsystem schnell seine Grenzen aufzeigte und dem nur dadurch Einhalt geboten werden konnte, indem 2009 wieder Jurys eingeführt wurden. Seitdem ist jedes Land angehalten, Musikexperten zu ernennen, die die Hälfte der Punkte bilden, die ein Teilnehmerland zu vergeben hat.
Klingt nach trockenem Gefasel, stellt mich persönlich aber auch vor die Frage: Möchte ich, dass Ferris MC mich und 16.399.399 weitere Deutsche vertritt?
Kritik am Juryvoting macht sich breit
Ausgerechnet diese – vom „Westen“ geforderte – Maßnahme steht jetzt in großer Kritik: So hätte bei reiner Publikumsentscheidung von Deutschland, Österreich, der Schweiz oder Slowenien der albanische Beitrag bis zu 20 Plätze weiter oben stehen können.
Oder anders gesagt: Die, die 2009 eine Wiedereinführung der Jurys am Lautesten gefordert haben, kritisieren diese Maßnahme nun, wo eben das Prinzip solcher Gremien dafür mitverantwortlich ist, dass es in diesem Jahr „nicht besonders lief“.
Da muss man draufkommen.
Allerdings ist auch davon auszugehen, dass Stefan Raab, die Allzweckwaffe zur Überwindung unliebsamer ESC-Phasen, seinem Rücktritt treu bleiben und nicht mehr zur Verfügung stehen wird.
Und es ist sogar davon ausgehen, dass die NDR-Unterhaltungsetage noch am Samstagabend, unmittelbar nach Punktevergabe, diese Raabsche Verfügbarkeit überprüft hat. Sicher ist sicher.
Gute Zeiten für Castingshows?
Der Schwedische Gewinner Måns Zelmerlöw in diesem Jahr war übrigens Fünftplatzierter bei der nationalen Variante von „Pop Idol“. Die Fünftplatzierte in der ersten Staffel „Deutschland sucht den Superstar“ dagegen hieß Gracia Baur. Und hat auch schon einmal erfolgreich (2005) für Deutschland beim Eurovision Song Contest den letzten Platz belegt. Bis zum nächsten letzten Platz haben wir also wieder zehn Jahre Zeit. Und bis dahin gilt es, einen Entertainer zu finden, der im Hintergrund die Strippen zieht.
Ich habe gehört, Thomas Gottschalk hätte jetzt Zeit.
Ach nee, der hat es ja auch schon einmal versucht.
Sollte die deutsche Eurovisiondelegation also nicht schnell eine Lösung für 2016 finden, gibt es womöglich noch diplomatische Spannungen zwischen Deutschland und den anderen EU-Staaten. Aber solange sich niemand abhört oder Geld schuldet, müssen wir uns da wohl keine Sorgen machen.
Halten wir fest: Es ist ein großes Glück für alle von uns, dass „Der Graf“ seinen Rückzug aus dem Showgeschäft bereits verkündet hat. Die nächste Lena kommt bestimmt.
Internettyp.
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