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Kuschelkurs statt Konfrontation? – Deutsch-französische Begegnung nach 62 Jahren zurück auf der Bühne

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Ein deutscher Soldat und eine Französin: Die Oper Leonore 40/45 am Theater Bonn erzählt die Geschichte von Yvette und Albert Anfang der 40er Jahre. Rolf Liebermanns Stück ist aber weitaus mehr als nur eine Liebesgeschichte – auf Spurensuche in die deutsch-französische Vergangenheit.

Zur Handlung: Yvette und Albert lernen sich 1941 bei einer Musikveranstaltung in Paris kennen und lieben. Sie werden in der Oper zum Idealbeispiel eines deutsch-französischen Wehrmachtpärchens während der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Auch das Umfeld der beiden, das sich stetig gegen alle Fraternisierungsbemühungen wehrt, kann am Ende nichts gegen eine Hochzeit nach dem Krieg unternehmen. Die Liebe gewinnt auf der Opernbühne in Form eines kurzweiligen, spannenden und überraschenderweise auch sehr komödiantischen Abends. Tatsächlich ist dieser Opernabend aber noch viel mehr als das, wie sich bereits nach einer kleinen Recherche zeigt. Leonore 40/45 feierte 1952 ihre Uraufführung in Basel und war ein großer Erfolg in der Schweiz; in Deutschland fiel das Stück beim Publikum allerdings durch und bekam seinen Ruf als Skandalstück. Ihre letzte Aufführung erlebte die Oper tatsächlich 1959 in Oldenburg – und heute wieder in Bonn. Ganze 62 Jahre nach der letzten Vorstellung nahm sich Regisseur Jürgen Weber des Stoffes an – immer noch mit Skandalpotential? Die vom Theater Bonn rund um die Aufführungstermine organisierten Rahmenveranstaltungen zum Stück bieten Gelegenheit für einen ersten Blick in die Inszenierungsarbeit, die historischen Hintergründe und die deutsch-französische Gegenwart.

Komik: Zirkus statt Zeigefinger

„Es ist eine Oper semiseria, die ist ganz bewusst komisch gemacht“, sagt Regisseur Jürgen Weber beim Nachgefragt nach der letzten Aufführung: „Man hat versucht, in eine fast durchkomponierte Oper den Flair der Dreigroschenoper reinzubringen.“ Das Stück ist komisch gemeint, es gibt ernste und komödiantische Szenen: Auf der Bühne macht sich die Komik vorwiegend durch die Zirkusatmosphäre bemerkbar, die auf einem Bildschirm in der rechten Bühnenecke als „Hitlerzirkus“ animiert wird. „Hitler ist eine komische Figur, er wird in dieser Inszenierung zur Figur und zur Projektionsfläche“, erklärt Weber. Für die Darstellung eines so heiklen Themas auf der Bühne sei die Komik ein gut gewähltes Mittel, wobei Hitler als Clown und Zirkusdirektor zugleich die Menschen hinters Licht führt. Neben den skurrilen Momenten bietet der Opernabend viele emotionale Bilder im Sinne der Trennung und Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich, die auf der Bühne durch Raumtrennungen vollzogen werden. Der charmante Witz siegt in Form des Schutzengels und Nachtfalters Monsieur Émile, der beim „Happy End“ der beiden Liebenden Yvette und Albert seine Finger im Spiel hat.

Dem Bonner Publikum blieben insgesamt leider nur vier Vorstellungen von Liebermanns Stück-eine Folge der Pandemie. Leonore 40/45 ist die meist verschobenste Oper der Spielzeit 2020/21 und sollte eigentlich anlässlich des Beethovenjahres gespielt werden. Nach der Orchesterhauptprobe im Mai diesen Jahres konnte die Liebesgeschichte dennoch dieses winzige Zeitfenster im Oktober gewinnen. Die durch Corona verschuldete Abwesenheit des Chores auf der Bühne steht der Wirkung des Stücks jedoch nicht im Wege und man hat als Zuschauer*in im Gegenteil das Gefühl, mehr Menschen auf der Bühne zu sehen, als vorhanden sind. Das liegt ebenfalls an den ausgetüftelten Positionierungen der Figuren im Stück – schwarz/weiß gibt es nicht bei Liebermann und bei einigen Figuren hat eine Denazifizierung noch nicht stattgefunden. Diese Tatsache sollte gerade bei der letzten Szene, die nach dem Krieg spielt, zur inszenatorischen Herausforderung werden: „Es ist kein pro-französisches oder anti-deutsches Stück und das ist schwierig in der heutigen Zeit, besonders wenn man die Hintergründe kennt“, so Weber. Von dieser ambivalenten Authentizität können sich auch die Protagonist*innen nicht frei machen, wie der Regisseur verrät: „Albert leistet keinen Widerstand, er ist ein Mitläufer, wenn er ein richtiger Heldentenor wäre, würde er im ersten Akt bei Yvette bleiben, statt sie zu verlassen.“ Auch musikalisch gibt es viel Abwechslung im Stück: Zitate aus Fidelio treffen auf Zwölftonmusik, atonale und bitonale Melodien.

Leonore 40/45 war das Erstlingswerk Rolf Liebermanns, für das der Komponist bei den Aufführungen in Berlin 1952/53 sogar Gewaltdrohungen erhielt. Für das Publikum der 50er Jahre war Liebermanns reflektiertes Werk zu nah an der Geschichte, zusammen mit den damaligen Schwierigkeiten der Fraternisierung wurde es zu einem Skandalstück und verschwand für Jahrzehnte. In Frankreich wurde das Stück übrigens nie gespielt, weder damals noch heute. Aber warum hat es nun 62 Jahre bis zur Wiederaufnahme gedauert? Und wird es bis zur nächsten Wiederaufnahme wieder so lange dauern müssen?

Berührungsängste von damals und die deutsch-französische Freundschaft

Ein Blick auf die Geschichte zeigt: Zwischen 1940 und 1944 besetzten deutsche Soldaten die größten Teile Frankreichs. Paris, wo sich Albert und Yvette im Stück kennenlernen, bildete dabei als Verwaltungssitz eine Art Ausnahme. Da sich circa 1,5 Millionen Soldaten in Deutschland in  Kriegsgefangenschaft befanden und erwerbstätige Männer fehlten, waren es die Französinnen, auf denen die Hauptlast ruhte. Viele von ihnen arbeiteten für deutsche Einrichtungen. Die Wehrmacht versuchte, den Umgang zwischen Soldaten und Französinnen zu reglementieren.

„Dass sich eine Französin für einen Deutschen begeistert hat und anders herum ist während des Krieges oft passiert“, schildert Dr. Stefan Martens, ehemaliger stellvertretender Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Paris, bei einem Zuschauergespräch vor einer Vorstellung. Zwar wurden Liebesbeziehungen nicht bestraft, aber Hochzeiten zwischen einem deutschen Soldaten und einer Französin waren verboten. Ab 1941 häuften sich die Fälle von Kindern, die als Folge dieser Umstände meist anonym geboren wurden und denen ihre Abstammung durch ihre Mütter oft verschwiegen wurde. Die Schätzungen über die Zahl dieser Schicksale bzw. Traumata schwanken zwischen 70.000 und 200.000. Auch im Nachhinein, bei der späteren Suche nach ihrer Herkunft, spielen die Umstände und Berührungsängste von damals eine große Rolle. „Man möchte mit der Vergangenheit teilweise immer noch nichts zu tun haben“, berichtet Dr. Martens. Es gab Familien in Deutschland, die von ihren französischen Verwandten nichts wissen wollten. Viele Berührungsängste sind nie richtig aufgearbeitet worden und stehen heute als Barrieren im Raum.

„Man vergisst immer ein bisschen, dass es nicht nur einen grausamen Krieg im Osten gab, sondern auch im Westen. Ab 1942 sind fast tagtäglich Erschießungen und Gewaltexzesse vorgekommen“, erklärt der Historiker. Gleiches gilt 1945 für den umgekehrten Fall beim Einmarsch der französischen Truppen in Deutschland. 1940 hatte es nur fünf Jahre gedauert, bis die deutschen Truppen in Paris einmarschiert waren, gefolgt von vier Jahren ständiger deutscher Präsenz. Aber so grausam wie der Krieg auch war, ließ er dennoch Raum für Begegnungen im Alltag bis hin zum gemeinsamen Besuch von Musikveranstaltungen, wie hier in der Oper geschildert. In Frankreich, Belgien und Luxemburg kämpften die Gruppen der résistance gegen die Kollaboration mit den Deutschen. „Denn auch im Krieg“, so Dr. Martens: „gibt es einen Alltag und ein Leben zwischen Besatzern und Besetzten. Wir haben kein fertiges Drehbuch über die verschiedenen Formen dieses Zusammenlebens im 2. Weltkrieg. Wir haben nur Anhaltspunkte. Es gibt daher in Frankreich mittlerweile viele Bachelor- und Masterarbeiten, wo sich Student*innen mit der Lage in ihrer Stadt beschäftigen wollen.“ Über die persönlichen Beziehungen der Soldaten mit den Französinnen wurde in Deutschland nach 1945 weitestgehend geschwiegen, während in Frankreich die Frauen das erste Opfer der Zurschaustellung wurden. Die femmes tendues wurden am Ende der deutschen Besatzungszeit öffentlich gedemütigt, indem ihnen der Kopf geschoren wurde, weil sie sich mit einem deutschen Soldaten eingelassen hatten.

Die 50er Jahre standen in den verfeindeten Nationen im Zeichen der Vergangenheitsbewältigung aber auch der Verdrängung. Ein guter Grund, weswegen Rolf Liebermanns Oper keinen Anklang in Deutschland finden konnte: „Es ist ein Stück vor seiner Zeit“, erklärt Historiker Dr. Stefan Martens: „Aus heutiger Sicht ist es eher eine Aufarbeitung der damaligen Vergangenheit.“ Im Ruhepol der Schweiz, so die damalige Überzeugung Liebermanns, war es Aufgabe der Kunst, als Brücke und Vermittler zu fungieren. 1950 wird die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft zwischen Ludwigsburg und Montbéliard auf dem Umweg über die Schweiz begründet. Die 50er Jahre sollten zu einer Übergangsphase der langsamen politischen Annäherung werden, die zunächst oft noch durch gegenseitiges Misstrauen (ressentiments) geprägt waren, ehe dann das Treffen zwischen Charles de Gaulle und Konrad Adenauer 1958 in Colombey-les-Deux-Églises und der Élysée-Vertrag 1963 eine solide Vertrauensbasis schufen. „Besonders die intensiven Bemühungen der Städtepartnerschaften in den 60er Jahren führen in den 70er Jahren zu einer sehr intensiven Zusammenarbeit“, bemerkt Dr. Martens. Es sei wichtig diese zivilgesellschaftlichen Verbindungen zu pflegen, um auf diese Zusammenarbeit immer wieder aufbauen und sie neu beleben zu können. „Auch nach 50 Jahren deutsch-französischer Freundschaft darf man sich nicht darauf verlassen, nur weil es bis jetzt ‚funktioniert‘ hat“, erläutert der Historiker.

Auch die Pandemie hatte diese Selbstverständlichkeit erschüttert und das deutsch-französische Verhältnis in Frage gestellt. „In den Grenzregionen kamen tatsächlich alte Feindbilder wieder hoch. Ein Zeichen dafür, dass man diese Begegnung wieder intensiver fördern müsste“, so Dr. Martens. Man müsse über dieses „nicht-miteinander-Reden-wollen“ sprechen, denn die Menschen, die den Krieg erlebt haben, würden immer weniger. Der Jugend komme hier aus der Sicht des Historikers, so Dr. Martens, eine besondere Rolle zu: „Jungen Menschen muss man erklären, dass das nicht alles schon Geschichte und abgehakt ist. Auch wenn es schon weit in der Vergangenheit liegt, ist es lohnenswert, sich mit dem Thema zu beschäftigen und die wichtigen Fragen zu stellen.“

„Es ist keine Einbahnstraße!“

Aber wie kann eine binationale Partnerschaft heute aussehen? Lars und Cécile sind Studierende in Bonn, Nathalie und Guillaume arbeiten in Köln – sie wissen Bescheid und teilen ihre Erfahrungen bei einer Gesprächsrunde auf der Foyerbühne. Während sich die einen während der Einführungswoche in der Uni kennen lernten, war es bei den anderen ein Weinfest, das sie zueinander führte. Ein großer Aspekt besonders im Alltag ist natürlich die Sprache: „Wir haben eigentlich immer deutsch geredet, aber es hat sich etabliert, dass wir im Alltag etwas Französisch sprechen, z.B. das ouais“, erklärt Nathalie. „Man spricht manchmal so seine eigene Sprache“, ergänzt ihr Freund Guillaume.

Nach ein paar Wochen kam es bei Lars und Cécile bereits zur ersten Begegnung mit Céciles Familie in Frankreich. „Ich habe eigentlich nur schöne Sachen gehört!“, berichtet die Deutsch-Französin. Dem schließt sich ihr Freund Lars an und bemerkt dennoch: „Es ist verrückt, wie wenig ich über das Land wusste!“ Auch das Interesse der Familien für die Kultur des Nachbarlandes ist groß: „Viele Freunde aus Frankreich sind mit mir nach Deutschland gereist“, erzählt Cécile. Häufig ziele die erste Frage der Freunde und Verwandtschaft trotzdem immer noch auf die Nationalität des/der Partners/in ab. Das müsse einfach nicht sein, bemerken alle vier. „Er ist ja nicht nur Franzose!“, sagt Nathalie und erhält Zustimmung aus der Runde: „Ich habe mir sie als Mensch ausgesucht und es hat sich ergeben, dass sie aus Deutschland kam“, bemerkt Guillaume.

Die Zukunft steht den beiden binationalen Paaren in beiden Ländern offen, ein Aufenthalt im Partnerland ist dabei ebenfalls eine Option. „Es ist keine Einbahnstraße!“, sagt Cécile: „Ich habe nicht das Gefühl, dass uns irgendetwas bremst!“ Diesen Schritt hat Guillaume bereits gewagt, er arbeitet in Köln, nach Frankreich soll es erstmal nicht zurück gehen: „Was ich hier gefunden habe, ist größer als das, was ich vermisse!“ Wichtig für die Partnerschaft, sowie für die deutsch-französische Beziehung, sei das „Miteinander-reden“, um Missverständnisse aus der Welt zu schaffen und neue Verbindungen zu etablieren. Der Blick der vier auf die Vergangenheit und die Geschichte in Leonore 40/45 ist klar: „Es wurde viel übereinander geredet, aber nicht miteinander.“ Ein gemeinsamer Wunsch für die Zukunft der vier: „Man muss offen zu allen sein, nicht nur in Frankreich oder Europa.“ Fazit: Die Liebe gewinnt und überwindet (Länder-)Grenzen.

Leonore 40/45 ist Teil der Reihe „Fokus ’33“: Das Theater Bonn zeigt Stücke, die nach 1933 oder ab 1945 von den Bühnen verschwanden, oder erst nach ihrer Entstehung zur Aufführung kamen. Weitere Stücke folgen bis mindestens Sommer 2023.