Sie labeln es als “Propaganda“ und meinen damit all die Hypes, die sich irgendwie falsch und aufgezwungen anfühlen: Mandelmilch geil finden, nen Halbmarathon laufen, die „Male Loneliness Epidemic“. Listen mit „Propaganda I´m not falling for“ gehen gerade auf Social Media rum, wie Zettel im Schulunterricht. Und jeder, der sie in die Finger kriegt, darf seine eigene Fußnote hinzufügen. Menschen auf Social Media haben keine Lust mehr sich einreden zu lassen, was sie gut finden oder angeblich brauchen. Und schon gar nicht, was sie für normal halten.
Propaganda I´m not falling for
Im Januar waren es noch die „Ins and Outs“: Spalte links für die Dinge, die wir behalten wollen. Spalte rechts für alle Angewohnheiten, die wir im neuen Jahr hinter uns lassen wollen. Nur fünf Monate später gibt es die „Propaganda I´m not falling for“-Listen, die ein bisschen Ordnung ins Chaos reinbringen sollen. Darauf verbannen junge Menschen, zu großen Teilen Frauen, verschiedene Dinge, die sie für overhyped halten: Face Lotion über 20 Euro, dass alle nach Dubai wollen. Oder dass kitschige Labubu-Anhänger der heiße Shit sein sollen.



Und weil Charli XCX es irgendwie schafft, zu jedem Trend den passenden Vibe parat zu haben („Brat summer“, der „Apple-Dance“ oder neuerdings „Party 4 U“) schafft es auch diesmal wieder ein Song von ihr, den Trend nicht nur musikalisch in Szene zu setzen, sondern ihm auch eine Stimme zu geben. Zu „I think about it all the time“ halten uns Creator*innen unkommentiert ihr Urteil vor die Nase, das geradezu schreit „Challenge me, if you dare“.
Das Propaganda-Handbuch: Von Kuhmilch bis Donald Trump
Man mag kaum glauben, was für eine starke Meinung manche Menschen zu Face Lotions haben, bis man sie in irgendeiner Kommentarspalte miteinander streiten sieht. Denn natürlich sind sich gerade bei einem so aufgeladenen Begriff wie Propaganda längst nicht alle Menschen einig, was dazu zählt. Steht auf der einen Liste „Kuhmilch lecker finden“ steht auf der anderen „Kuhmilch scheiße finden“. Ist die eine absolut überzeugt davon, dass “Money buys you happiness” die größte Propaganda aller Zeiten ist, lacht die andere nur über deren Naivität und lässt sich gleich im Anschluss eine große Portion happiness auf die nächste Klarna Rechnung schreiben. Nirgendwo sonst können zwei komplett gegensätzliche Realitäten so nah und doch so reibungslos existieren, wie auf Social Media.
Wer es schafft, dann auch noch zwischen den Zeilen und Emojis zu lesen, der versteht, dass der Trend durchaus sehr ernst gemeinte Kritik übt. Berechtigt ist der kritische Blick darauf, dass der Begriff Propaganda nicht für einen Social-Media-Trend verwässert werden sollte. Und doch versteht man bei näherem Hinsehen, dass auch der ein oder andere „Lifestyle-Hot-Take“ sehr wohl seinen Platz im Propaganda-Gedränge verdient. Während manche sich noch fragen, warum gerade die „Clean Girl Ästhetik“ oder „Kinder in seinen Zwanzigern bekommen“ auf so vielen Listen direkt über Donald Trump und „Skinny-Tok“ auftauchen, ist gerade ihre Gemeinsamkeit wohl der Grund für viele, sie zusammen dorthin zu packen. So laden sie uns dazu ein, näher hinzuschauen. Auch die Songauswahl beweist, dass der Trend durchaus mehr Scharfsinn und Entertainment bietet, als man ihm im ersten Moment zuschreiben möchte.
Der Sinn im Leben einer Charli XCX
Oft höre ich ja bei Trends gar nicht so genau auf den Song, der gerade im Hintergrund läuft. Bei diesem, bin ich allerdings hellhörig geworden. Denn während einige sich sicher sind, dass „Kinder in seinen Zwanzigern bekommen“ eine Propaganda ist, auf die sie niemals reinfallen werden, befindet sich Charlie XCX im Hintergrund gerade in einem richtigen Sinnkrise: Pille oder Karriere absetzen?
In einem Interview über ihren Song erzählt Charli XCX, dass sie damit ein sehr reales Dilemma aus ihrem Leben verarbeitet. Nachdem sie eine Freundin besuchte, die vor kurzem Mutter geworden ist, fragte sie sich auf dem Heimweg plötzlich: Hat sie etwas verstanden, was ich nicht verstanden habe? Ist es vielleicht doch etwas, was ich möchte? Wir kennen sie als It-Girl, als Party-Maus. Aber auch eine Charli XCX muss sich wohl irgendwann die Frage stellen: Welchen Lebensweg wähle ich? Da wirkt es schon fast wie eine Stichelei, dass sich Creator*innen gerade ihren Song als Theme für den Propaganda-Trend ausgesucht haben. Als wollten sie ihr signalisieren: Girl, du bist drauf reingefallen.
Der Enkeltrick
Propaganda, eine Idee oder einen Sachverhalt bewusst so darstellen, dass man sein Gegenüber damit zu einer bestimmten Haltung beeinflusst. Und teilweise nur gewisse Seiten einer Argumentation immer und immer wieder indoktriniert, bis man denjenigen von etwas überzeugt hat. Mit dieser Definition im Hinterkopf denke ich an Eltern, die ständig ungefragt das Enkel-Thema aufbringen, denke an Politiker, die Frauen als Brutmaschinen betrachten. Ich denke daran zurück, wie mir, selbst noch ein Kleinkind, eine Babyborn in die Hand gedrückt wurde. Um die darf ich mich kümmern und ihr hübsche Kleidchen anziehen. Pluspunkte, wenn es ein Modell ist, dem man die Windeln wechseln kann. Ich denke an Filme und Serien, die oft damit enden, dass die Frau weinend im Krankenhaus liegt, ihr frisch gewaschenes Baby im Arm, den „Mama-Glow“ im Gesicht und alle Schmerzen vergessen. Ende gut, alles gut. Und wahrscheinlich denkt auch eine Charli XCX über all das nach. Beißt sich auf die Zunge und fragt sich: Ist es etwas das ich will? Oder ist es mir nur immer wieder eingeredet worden? Jedenfalls fragen sich das ihre Fans auf Reddit:
„[…] it seems to have been beaten into people’s psyche forcefully… of course there might be spiritual/ existential/ biological and other undertones to it as well, but I wonder if at this point we can even make that distinguishment… if one really wants to have a kid for the right reasons or if it’s solely due to societal pressure and conditioning.“
Gerade, wenn man danach strebt, sich nicht an anderen zu orientieren, sondern sich sein eigenes „Normal“ aufzubauen – und das trifft bei Charli XCX als Popstar und Feministin ja quasi im doppelten Sinne zu: Wie stehe ich dann dazu, wenn Themen und Lebensfragen wie diese mich plötzlich nicht mehr von außen konfrontieren, sondern von Innen?
Jeder geht mit Stress anders um
Auch an anderer Stelle kommt mir der Propaganda-Trend vor wie ein ironischer Kommentar auf Lebensentscheidungen. Die letzten Monate hatte man das Gefühl, Menschen versuchen mit allen Mitteln sich einen Rückzugsort aufzubauen. Während die Welt draußen in Unruhe, Unsicherheit und Umbrüchen versinkt, suchte die Social Media Bubble nach Ruhe, Selbstfindung und einem lebensbejahenden Gefühl. Und findet es im händchenhaltenden Ehepaar vor einem auf der Straße, im Leben ohne Trendsound, in den Alltagsfreuden und den Momenten, wo die Welt in Ordnung scheint. „Almost forgot this is what it´s all about“.
Sinn suchen in Krisenzeiten, das ist nichts Neues. Immerhin ist es erwiesenermaßen ein Puffer gegen mentale Belastung und Stress. Wir können vielleicht nicht die machthungrigen Männer auf der Welt kontrollieren, die unsere Zukunft auffressen, aber wir können uns auf das Gänseblümchen vor uns konzentrieren. Wir beginnen damit, die Alltagsfreuden wieder besonders wertzuschätzen. Wer den Lebenssinn nicht in der Kirche sieht, der findet seine Religion vielleicht im Kaffeedate mit der besten Freundin. Und wenn das für mein eigenes Leben reicht, wer will mir dann erzählen, dass gerade die Welt den Bach runtergeht? Statt uns mit neuen Dingen zu bereichern, wie manche Creator*innen auf TikTok, deren „that´s what it´s all about” aus Jetskifahren und teuren Restaurantbesuchen besteht, bereichern wir uns mit neuen Perspektiven. Kapitel eins im Thrift-Handbuch für affordable Eskapismus. Immerhin kann man uns nicht vorhalten, wir wären nicht demure. Aber, ist das eine gesunde Bewältigungsstrategie oder Verdrängung?
Propaganda I AM falling for
„Propaganda I´m not falling for“ jedenfalls, scheint aufzuräumen mit Romantisierung, abzurechnen mit Consumer Culture und mit dem Finger auf Missstände zu zeigen. Wir sehen plötzlich wieder all die Dinge, denen gegenüber wir uns als Individuen ohnmächtig und ausgeliefert fühlen. Statt wegzulaufen, sagen wir verbittert: „Kann zwar nix dagegen machen, aber scheiße finden kann ich es trotzdem.“ Der scharfzüngige Sarkasmus wird plötzlich zu einem sehr zugänglichen Sprachrohr. Das wir benutzen, um die Ungerechtigkeiten dieser Welt mit Papierkügelchen zu bespucken. Ein kleiner Akt der Rebellion – wenn auch ein eher passiver.
Denn am Ende des Tages wäre es wohl ein Trugschluss zu glauben, dass wir uns von Propaganda und Systemen befreien können, nur weil wir die Kraft finden, uns über sie lustig zu machen. Dann doch besser gleich die Propaganda zu eigen machen? Es war spannend zu beobachten, wie schnell sich hier der „Gegentrend“ entwickelt hat – an dem sogar Charlie XCX teilgenommen hat mit „Propaganda I AM falling for“:


Ja die Body Lotion ist teuer, aber sie ist halt verdammt geil! Ja, sich parfümieren vor dem Schlafengehen ist Quatsch, aber ich lieb´s auch ein bisschen – obwohl, oder gerade weil, es so gut propagandiert wurde. Die Creator*innen widersprechen dem Label „Propaganda“ nicht. Vielmehr sagen sie, dass sie diese Propaganda bewusst für sich normalisieren. Ist es dann noch Propaganda? Wenn ich mich am Ende des Tages dazu entscheide, Mutter zu werden, in dem Wissen, dass ein Teil der Gesellschaft, das von mir erwartet. Reclaime ich damit etwas für mich, oder entscheide ich es nur für mich obwohl es Propaganda ist? Und wäre es die bessere Option, mich einfach gegen alles zu entscheiden, was mir propagandiert wird, unter dem Risiko, dass ich es gewollt hätte, hätte man es mir nicht so oft vor die Nase gehalten?
Eins ist sicher: Auch wenn wir die Propagandazüge dieser Welt auf eine Liste verbannen, wir werden sie damit nicht los. Wir leben weiterhin in einer Beziehung zu ihnen. Sie spielen in unserem Leben trotzdem eine so große Rolle, dass wir uns fast tagtäglich aufs neue mit ihnen konfrontiert sehen. Sie bestimmen unser Leben dadurch, dass wir sie durch die Tür lassen oder dadurch, dass wir sehr viel Energie aufwenden müssen, die Türe zu zu drücken. Und vielleicht wissen auch die Creator*innen des Trends unterbewusst, dass auch sie sich nicht von Propaganda befreien können. Warum sonst haben sie genau diesen Charlie XCX gewählt. Ob Skinnytok oder misogenes Gedankengut, Labubus oder Face Lotion – wir können es scheiße finden und uns davon distanzieren. Aber es bleibt trotzdem Teil unserer Realität. And we think about it all the time.
