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Anderthalbseiten für Realismus-Allergiker:innen

Lesezeit: 3 Minuten

Junge Menschen gelten als naiv, wenn sie Utopien fordern. Aber was, wenn es genau andersherum ist? Aber was, wenn der wahre Fehler ist, das Bessere gar nicht mehr zu denken?

Wenn ich mit meinen Eltern, oder generell mit älteren Menschen, über Politik rede, dann laufen viele Gespräche irgendwann auf dieselben Sätze hinaus: „Das klingt ja schön, aber das ist doch einfach nicht realistisch.“ Oder: „So funktioniert die Welt halt nicht.“ Und natürlich der Klassiker: „Ich hab früher auch mal so gedacht wie du. Aber irgendwann wird man eben realistischer.“ Als wäre Gerechtigkeitssinn und der Wunsch nach einer besseren Welt etwas, das man „überwinden“ müsse. 

Da frage ich mich oft, was „realistisch“ denn eigentlich bedeutet. Realistisch im Sinne von: angepasst an eine Welt, die wir alle für verbesserungswürdig halten, aber aus Bequemlichkeit oder Angst nicht verändern wollen? Realistisch im Sinne von: lieber nichts versuchen, weil es eh nicht klappt? „Realismus“ wirkt dann häufig nur wie ein Euphemismus für Resignation.

Diese Haltung kommt selbstverständlich nicht aus dem Nichts. Wir leben in einer Zeit, in der Krisen zur Dauerbeschallung geworden sind. Klimakatastrophe, Kriege, Inflation oder das weltweite erstarken rechtsextremistischer Kräfte. Es fühlt sich oft so an, als würde überall gleichzeitig der Boden unter unseren Füßen wegbrechen. 

Ein SPD-Mitglied twitterte dazu kürzlich: „Wir müssen wieder mehr Pragmatismus und Realismus wagen.“

Das klingt erst mal vernünftig und man könnte den Eindruck gewinnen: In krisenhaften Zeiten ist der Pragmatiker, der Realist, der Macher gefragt. Menschen, die sich auf konkrete Lösungen konzentrieren, die das Hier und Jetzt verwalten, stabilisieren, möglichst wenig wackeln lassen. Wer in solchen Zeiten von fernen, vielleicht unerreichbaren Zielen spricht, von einem ganz anderen Miteinander, von einer gerechteren Gesellschaft, vom Ende aller Kriege oder einem radikal neuen Umgang mit Natur und Ressourcen, der gilt schnell als Träumer oder sogar als gefährlich.

Gibt es in Krisenzeiten also keine Zeit für Utopien?

Gerade in der Krise müssen wir uns erlauben, utopisch zu denken. Nicht statt Realismus, sondern gerade wegen ihm. Utopien sind nämlich immer auch realistisch. Sie entstehen aus der Kritik am Hier und Jetzt und sind so in der Lage, die bestehenden Missstände sichtbar zu machen. Thomas Morus‘ Buch Utopia, welches den Begriff wesentlich geprägt hat und von einem “Goldenen Zeitalter” erzählt, war keine naive Flucht in eine Fantasiewelt, sondern eine radikale Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit. Und viele Dinge, die einst als utopisch galten, das Frauenwahlrecht, die Abschaffung der Sklaverei, soziale Sicherungssysteme, sind heute für uns selbstverständlich.

Nun ist es noch gar nicht so lange her, dass all diese Errungenschaften erkämpft wurden, was ist also seitdem passiert? Die Soziologin Alexandra Schauer argumentiert in ihrem Buch Mensch ohne Welt, dass durch die permanente Konfrontation mit den Problemen der Welt, der Mensch eine Allverantwortung verspürt, diese zu lösen. Da das aber unmöglich ist, führt dieser Tatendrang dann zum Gegenteil: der vollkommenen Lähmung. So sehen wir die Zukunft nicht mehr als etwas, das wir aktiv gestalten können, sondern als etwas, das uns passiert. Wie ein Sturm, den man aushalten muss. Oder wie ein Schicksal, das man hinnehmen muss. Zukunft ist für viele kein Ort der Hoffnung mehr, sondern eine Drohung.

Zeit fürs Utopie-Workout

Dabei ist der Glaube daran, dass die Welt auch ganz anders sein könnte, Ausdruck einer grundlegenden menschlichen Fähigkeit. Jede*r von uns besitzt die Fähigkeit, utopisch zu denken. Aber wie jede Fähigkeit muss auch diese trainiert, geübt und gepflegt werden. Wer sie nicht nutzt, bei dem rostet sie irgendwann ein. Und wenn eine ganze Gesellschaft verlernt, sich vorzustellen, wie die Dinge auch anders laufen könnten, dann verliert sie genau das, was sie am dringendsten bräuchte: die Überzeugung, dass das Bestehende nicht alternativlos ist. 

Dieses sogenannte Kontingenzbewusstsein, also das Bewusstsein dafür, dass soziale und politische Verhältnisse menschengemacht und damit veränderbar sind, ist die Grundlage jeder utopischen Vorstellungskraft. Wenn wir dieses Bewusstsein verlieren, verlieren wir auch die Fähigkeit, uns aus den Zwängen des Jetzt zu lösen und über das rein Machbare hinauszudenken. Dann erscheint sogar der Gedanke an grundlegende Veränderung als weltfremd oder kindisch.

Versteht mich nicht falsch: Ich bin nicht gegen Kompromisse. Wenn man nur eine kleine Pantryküche hat, ist es vernünftig, erstmal kleine Brötchen zu backen. Aber wenn niemand mehr von einem ganzen Brotlaib träumt, wer soll ihn dann je in den Ofen schieben?

Die Welt war nicht immer so, wie sie ist und sie muss auch nicht so bleiben.

Ich bin jung, ja. Vielleicht auch idealistisch. Aber Idealismus ist keine Schwäche. Er ist der Anfang von allem. Wer keine Utopien mehr zulässt, wer keinen positiven Entwurf der Zukunft mehr in sich trägt, der hat auch nichts für das es sich lohnt zu kämpfen. 

Was wir brauchen, ist nicht mehr Realismus. Was wir brauchen, ist ein bisschen mehr Größenwahn. Ein bisschen mehr Was-wäre-wenn. Denn ohne das wird das Morgen nur eine Wiederholung des Gestern. Und darauf habe ich ehrlich gesagt keine Lust.