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Von Goliathkäfern und Aktivismus – Rezension und Interview zu Pia Klemp’s „Entlarvung“

Lesezeit: 4 Minuten

Sie saßen in ihren dunklen Bäumen und sagten nicht viel, das Unterholz nuschelte geheimnisvoll vor sich hin. Sie waren nicht viele, kaum zwanzig. Doch die, die hier waren, meinten es so ernst, dass sich ihnen die Augen zusammenkniffen. Es würde weh tun und sie würden die Schlacht verlieren, das wussten sie. Die Staatsorgane hatten kein Geheimnis daraus gemacht, den Protest meucheln zu wollen und ihre Absichten noch schmissig hinausposaunt. Die Medienwelle war abgeflaut, man sorgte sich jetzt wieder um anderes (nämlich um Sozialschmarotzer und um den Skandal im Vorstand einer großen Bank. Auch der Fernsehmoderator war in seiner Finca auf Ibiza und hegte ganz unbestürzt seine Rosensträucher).

aus ,,Entlarvung’’, S. 211

Während ihrer nächtlichen Arbeit in einem zoologischen Museum wird die Präparatorin Rubi, die sich eigentlich weitgehend aus ihrem Leben in die Arbeit verkrochen hat, von einem Einbruch der Aktivistin Iana aufgeschreckt und, für beide überraschend, inspiriert. Im Angesicht der Frage, wie sie sich dem 6th mass extinction und der drohenden Klimakatastrophe entgegenstelle, setzt bei Rubi eine weitreichende Entwicklung ein. Denn obwohl sie den Sinn ihres eigenen Lebens bezweifelt, bedroht die von Iana gezeigte Zukunft jede Überlebensgrundlage, anhand derer überhaupt noch nach Sinn zu fragen möglich wäre.

Wie unterschiedlich solch persönliche Sinngebungen sein können zeigt ,,Entlarvung’’ wie im Schaukasten mit den darin vorkommenden Figuren. Ob sie ihr Leben mit Wellness, Meditation und Yoga-Retreats auf Bali immer weiter aufbessern wollen, nur ihren Job machen und sich ins Private zurückziehen oder sich grundsätzlich fragen, ob und in welchen Systemen es sich noch zu leben lohnen könnte – geschweige denn, dafür zu kämpfen-: sie alle haben und finden unterschiedliche, gerne für allgemeingültig gehaltene, Umgangsweisen mit ihrer unmittelbaren Gegenwart.
Nur Rubi schafft es, aus den gängigen Mustern ihres Alltags herauszuwachsen.

Eine bleibende Frage des Textes ist allerdings, inwiefern sich die großen Leerstellen ihres Lebens ohnehin als geeignet erweisen mussten, damit sich dort etwas einpassen konnte.

Diese selbstbefragenden Prozesse sind Autorin Pia Klemp nicht fremd, wie sie bonnFM im Interview erzählt hat. Obwohl sie schon durch ihr familiäres Umfeld politisiert wurde und sich bis heute solidarisch mit von Ungerechtigkeit betroffenen Menschen wie Tieren zeigt. Die Überlegungen, wieviel Engagement ausreiche oder ob sich zu lange auf bisherigen Positionen ausgeruht wurde, was zu tun wäre und wie man sich selbst schütze, begleiten ihr Engagement und ihre politische Praxis. Dadurch weist auch ihr drittes Buch ,,Entlarvung’’ autofiktionale Bezüge auf, wenn auch weniger deutlich als im vorausgegangenen Buch ,,Lass uns mit den Toten tanzen’’. Darin erzählt eine Ich-Erzählerin von der Seenotrettung Geflüchteter aus dem Mittelmeer mit Schiffen privater Hilfsorganisationen und erfährt, wie Klemp selbst, den Widerstand europäischer Grenzpolitik.

Sprache zum Anfassen

Für äußere wie innere Widerstände ihrer Figuren findet die Autorin dabei über die gesamte Länge des Buches eine sehr eigene und eindrückliche Sprache.
Ein kritisch erwachtes Bewusstsein erlebt so die Beklemmung ihres Wegs zur Arbeit ,,durch die grauen Häuserschluchten, vorbei an tausenden Tonnen Sand, die zu Betonwüsten gepresst worden waren und den Himmel stahlen’’; eine andere Figur gibt ,,sich souverän der Lüge hin’’. Solche Ausdrücke erwecken eine Tiefe, die mitunter bedrückt, aber in Orte und Figuren einzutauchen ermöglicht.
Diese Präzision wird durch Einschübe in Klammern noch erhöht: Sie wirken wie forschende Notizen zu den im Text vorgefundenen Exemplaren der Gattung Mensch, die in ihrer Geschichte wie in Glas konserviert, kommentiert, verzeichnet und für uns Lesende ausgestellt werden. Hier schließt der Ton an den Beruf der Protagonistin Rubi an, die als Präparatorin ihren Objekten den Anschein von Lebendigkeit geben möchte. Das schafft, trotz der beobachtenden Distanz, mit liebevoll detaillierten Schilderungen für sogar Neben- und Nebenstfiguren glaubhafte Charakterzüge und, bei all ihren Absurditäten, eine Art Würde.

Trauerprozess und Entlarvung zugleich

Die Figuren in ,,Entlarvung’’ werden dadurch als Produkte ihrer jeweiligen Umgebung erkennbar; sie haben sich auf ihr Überleben hin zu ihrem jetzigen Verhalten entwickelt.
Im Text heißt es: ,,Ein Umstand, der beachtet werden wollte, […] das Larvenstadium ist das einzige, in dem Käfer wachsen. Abhängig von den Bedingungen dieser Epoche ihrer eindrucksvollen Metamorphose war der ausgewachsene Käfer am Ende dann groß oder eben nicht.’’ Diese jeweilige ,,Größe’’ der Charaktere zu bemessen, ob ihnen keine andere Gestalt möglich war oder sie das Potenzial zu (innerer) Metamorphose und Wachstum eigentlich besäßen, obliegt dem Urteil der Lesenden.

Fazit:

Aus der Verantwortung, eigene Perspektiven und Beurteilungen zu entwickeln entlässt ,,Entlarvung’’ von Pia Klemp die Lesenden bis zur letzten Seite nicht. Kompromisslos und darin der Autorin ähnlich hat das Buch der ehemaligen Kapitänin der Iuventa und Sea-Watch 3 eine Haltung, deren Mitgefühl und solidarische Überzeugung eine tiefe Menschenkenntnis beweist. Der Kampf um deren Zukunft, sowohl die eigene wie die aller anderen Menschen, wird hart, zeigt der Text; er wird lang und er wird die Widerstände einiger, ihn überhaupt anzuerkennen, überwinden müssen.

Gerade deswegen ist ,,Entlarvung’’ lesenswert. Es beleuchtet diese individuellen Prozesse ohne den menschlichen Umgang mit mitunter abstrakten Wissen zu vernachlässigen. Moralische Fragen werden nicht besserwisserisch zu Lektionen umformuliert oder zu bloßem Lifestyle. Selbst die im Text beschriebenen Aktivist*innen sind authentisch fehlerbehaftete Menschen mit Vorurteilen, Problemen, die sie sich und anderen zumuten, und können gleichzeitig Opfer des Systems und der psychischen Belastung ihres Engagement sein.
,,Entlarvung’’ ist gerade darin lehrreich, wertvoll und lesenswert, dass es eigen bleibt und sich keiner einfach zu konsumierenden Unterkomplexität bedient. Es ist zu wünschen, dass Literatur häufiger, statt sich selbstgefällig aus der Distanz über die Kaputtheit unserer Welt auszulassen, so engagiert und differenziert unbequeme Positionen zu erzählen vermöge. Das würde nach dem Sturz aus allen Wolken, den die im Text gezeigte Gesellschaft bräuchte, zumindest den Boden bereitstellen, um auf eigenen Beinen stehen zu lernen.

Daher: Eine Empfehlung für ,,Entlarvung’’ von Pia Klemp und der Ratschlag, sich diesem Buch gemeinschaftlich zu nähern – als Diskussion in der WG, um sich mit den eigenen Eltern zu zerstreiten (und hoffentlich wieder zu versöhnen!) oder dem*der Therapeut*in davon zu erzählen – hin zu einer solidarischeren Welt.

Von Clara Schulz und Ismael Berrazouane