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„Verwarte“ ich mein Leben?

Lesezeit: 4 Minuten

Während manche noch in ihrem zwölf Quadratmeter großen WG-Zimmer schlafen, nachdem sie sich durch hunderte Castings für dieses Zimmer gekämpft haben, stehen andere – mich eingeschlossen – schon um 6:30 Uhr am Bahnsteig, um (hoffentlich) pünktlich im Acht-Uhr-Seminar in der Uni zu sein. Lohnt sich das?

Rund 28 Prozent aller Studierenden in Deutschland pendeln zu ihrer Hochschule, wie aus dem Mikrozensus 2024 des Statistischen Bundesamts hervorgeht. Zwischen Sprints zum Bahnhof, Geldverdienen (um mir irgendwann doch den Traum einer Wohnung in Bonn erfüllen zu können) und dem täglichen Blick auf die DB-App frage ich mich immer wieder: Ist Pendeln die richtige Entscheidung oder warum tue ich mir das eigentlich an?

Liebeserklärung an die DB

Die Unternehmen hinter den Regionalzügen RE 5, RB 26 und RB 48, Trans Regio und National Express, haben t-online letztes Jahr mitgeteilt, dass rund 45 Prozent ihrer Züge verspätet sind. Alle drei Regionalzüge fahren über den Bonner Hauptbahnhof. Durch Verspätungen und Zugausfälle, um besagte Verspätungen auszugleichen, sind die Züge dementsprechend voll. Doch auch die obligatorischen fünf Minütchen zweimal pro Tag, in denen du „nur kurz“ auf den Zug wartest, ergeben innerhalb einer Woche schon fast eine Stunde „verwartete“ Zeit. Im Winter ist die Situation besonders belastend, wenn es dunkel, nass und kalt ist. Während die Ansage  „Information zu…, Heute circa 15 Minuten später.“ ertönt, wirken die Gesichter der anderen Wartenden so leer wie das eigene vermutlich auch. 

Trotzdem gibt es auch schöne Seiten, denn manchmal können Leidensgenoss*innen zu Freund*innen werden. Ich habe zum Beispiel gemerkt, dass bekannte Gesichter aus meinen Seminaren plötzlich auch am selben Bahnsteig standen und genauso genervt warten mussten wie ich. Heute können wir unser Leid teilen und fahren manchmal zusammen, wenn es unsere Stundenpläne zulassen.

Mit etwas Glück bekomme ich sogar noch den Zug von vorher, wenn er sehr viel Verspätung hat. Es gibt aber auch diese seltenen Tage, an denen der Zug halbwegs pünktlich ist, relativ leer ist und ich mit Musik in den Ohren die vorbeirauschende Landschaft beobachte und meinen main character moment habe. Zugfahrten an sich sind etwas Schönes, denn sie bieten die Möglichkeit, Filme zu schauen, Bücher zu lesen, Spiele mit Freund*innen zu spielen, sich mit Fremden zu unterhalten und so viel mehr. Das Problem ist weniger das Pendeln selbst – es ist die Unzuverlässigkeit und die daraus resultierende Unplanbarkeit, die es so nervenzehrend macht.

Leben nach Fahrplan

To be 15 Minuten zu spät or to be 45 Minuten zu früh?, das ist hier die Frage, denn es gibt nur zwei Verbindungen in der Stunde. Ich nehme also den frühen Zug mit 45 Minuten Puffer, nur um am Ende aufgrund von Verspätung doch wieder sprinten zu müssen, um noch pünktlich zum Seminar zu kommen.

Spontanität? Was ist das für ein Wort? Noch nie gehört. Nach dem Seminar noch 15 Minuten quatschen? Ungern, weil ich sonst wieder 45 Minuten am Bahnhof auf den nächsten Zug warten muss (angenommen, er wäre pünktlich). Egal was du machst, du musst immer im Blick behalten, wann oder ob der nächste Zug kommt. Nach langem Warten am Gleis plagt mich meistens das schlechte Gewissen – Aber wie kann ich die Zeit sinnvoll nutzen?

Mit etwas Glück lässt sich die Zeit in der Bahn produktiv nutzen zum Lesen, Uni-Kram erledigen oder Mails beantworten. Doch oft bin ich einfach zu müde oder damit beschäftigt, in einem überfüllten Zug nicht erdrückt zu werden. Mit geschickt gelegten Seminaren und Fahrten außerhalb der Stoßzeiten, zum Beispiel um 12 Uhr hin und um 20 Uhr zurück, lässt es sich allerdings aushalten. Abgesehen davon, dass der ganze Tag dann sowieso hin ist und Sport machen oder Treffen mit Freund*innen selten sind. Ein weiterer Gamechanger ist es, die Kurse nur auf drei oder vier Tage zu verteilen. An diesen Tagen heißt es dann zwar, am Stück durchziehen, dafür bleibt aber mehr Zeit für Freizeit, weil ich weniger unterwegs in Zügen bin. Bei all dem Aufwand komme ich immer wieder auf den Gedanken zurück, in Bonn zu wohnen, aber das ist leichter gesagt als getan.

Home is, where the Spülmaschine is

„Aber wieso ziehst du nicht einfach dahin?” Diese mit Sicherheit gut gemeinte Frage verunsichert mich immer wieder. Denn natürlich habe ich auch schon darüber nachgedacht, einfach nach Bonn zu ziehen. Aber einfach ist das nicht immer, ob aus finanziellen oder familiären Gründen. Einfach ist das nicht, wenn WG-Zimmer durchschnittlich so viel kosten wie eine kleine Kreuzfahrt. Nämlich 525 Euro Miete, wie aus einer Auswertung des Moses-Mendelssohn-Institut in Kooperation mit der Online-Vermittlungsplattform WG-Gesucht hervorgeht. Obwohl ich gerade schon einen Minijob habe, müsste ich wahrscheinlich extra jobben, nur um die Miete in Bonn zu bezahlen. Dann würde ich genauso viel Zeit verlieren wie jetzt, nur eben bei der Arbeit statt in der Bahn.

Dazu kommen ewige Wartelisten in Wohnheimen mit einer Wartezeit von etwa sechs Wochen bis zu zwei Jahren und fragwürdige Zimmer auf WG-Gesucht. Zum Beispiel nur für Frauen ausgeschriebene Angebote oder Zimmer mit seltsamen Gegenleistungen für die Unterkunft. Die guten Anzeigen, die nach einem Tag meistens wieder weg sind, erkennt man an sympathischen Beschreibungen der Mitbewohner*innen und einem Bad, in dem man sich bewegen kann.

Zuhause bei meiner Mutter zu wohnen, ist dagegen Luxus: funktionierende Spülmaschine und Waschmaschine sowie immer etwas zu essen im Kühlschrank. Außerdem bin ich so nah bei meinem Opa und die Zeit, die ich mit ihm verbringe, möchte ich gerade nicht aufgeben. Diese gemeinsame Zeit mit der Familie ist unglaublich wertvoll und ich finde, sie sollte geschätzt werden, solange es möglich ist. Doch so schön das Zuhause-Sein bei der Familie auch ist, es bringt mit sich, dass ich mich am liebsten zerteilen würde.

Zwischen zwei Welten

In Bonn und in meiner Heimat habe ich Freund*innen,  aber manchmal habe ich das Gefühl, nirgendwo so richtig dazuzugehören. Weil ich oft in Bonn bin, sehe ich die Leute aus meiner Heimat eher selten, und gleichzeitig frage ich mich jedes Mal, wenn die Freund*innen aus Bonn spontan am Wochenende etwas unternehmen wollen, ob sich die Zugfahrt dafür wirklich lohnt. Trotzdem kommt das Socialising nicht unbedingt zu kurz, denn dafür können Wege gefunden werden, um das Beste daraus zu machen. Meine Freund*innen aus Bonn kommen mich zum Beispiel auch manchmal zu Hause besuchen, und wenn ich abends in Bonn etwas unternehme, kann ich bei ihnen übernachten. Solche Momente zeigen, dass Freundschaft auch über Entfernung bestehen kann.

Mein Fazit (das keins ist)

Nach drei Semestern Pendeln wünschte ich, ich könnte euch die eine perfekte Antwort geben. Ist Pendeln das Richtige oder das Falsche? Ich habe bis heute leider keine Antwort darauf. Jeden Tag zweifle ich an meiner Entscheidung, wenn ich wieder mal am Bahnsteig stehe und keine Bahn kommt. Natürlich ist Pendeln nicht für jeden was. Wichtig ist, die eigenen Prioritäten festzulegen. Und Kompromisse eingehen.
„Verwarte“ ich mein Leben? Vielleicht. Aber vielleicht ist es genau diese Denkweise, die mich stresst. Dieser Anspruch, jede Minute produktiv sein zu müssen. Die Zeit im Zug ist wie eine Schwelle oder Liminalität zwischen Uni und Zuhause, zwischen zwei Welten. Manchmal tut es gut, einfach rauszuschauen, Musik zu hören und die Gedanken schweifen zu lassen. Eins weiß ich aber sicher: Ich bin dankbar, studieren zu dürfen, und das sind alles first-world-problems – auch wenn die Bahn mal wieder 15 Minuten zu spät ist.

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