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Was genau ist eigentlich „Osteuropa“?

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Der Begriff „Osteuropa“ ist doch eindeutig und jeder weiß was gemeint ist. Oder? Ein Vortrag in der Volkshochschule geht dem ganzen Thema genauer auf den Grund und erklärt, wie Osteuropa denkt.

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Osteuropa, das sind alle Länder östlich von Deutschland. So ist jedenfalls das gängige Verständnis. Aber kann man so viele Länder überhaupt über einen Kamm scheren, nur weil sie in der gleichen Himmelsrichtung von uns aus gesehen liegen? Kann man die dortige politische und gesellschaftliche Kultur pauschal mit einem Begriff zusammenfassen? Unter dem Titel „Wie tickt Osteuropa“ hat Ingo Mannteufel, Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle, versucht, eben diese Fragen zu beantworten. Organisiert von der Konrad-Adenauer-Stiftung fand der Vortrag mit anschließender Diskussion in der Volkshochschule vor interessiertem Publikum statt.

Die Begrifflichkeiten

Das Ziel des Abends war, zu verstehen, warum die Länder im Osten Europas sich so von Westeuropa unterscheiden und ob es möglich ist, sich wieder anzunähern. Der Einstieg begann jedoch nicht mit der Beantwortung der Fragen, sondern mit dem Stellen einer ganz neuen Frage. Nämlich der Frage nach der Definition vom Osten. Und der Schlussfolgerung, dass man dementsprechend auch fragen sollte, was eigentlich der Westen ist. Denn der Osten kann für uns die neuen Bundesländer, die mittelosteuropäischen Staaten oder der äußerste Osten Europas sein. Genauso gut könnte man sagen, der Osten Europas ist der äußerste Westen Asiens. Es ist nur eine Frage des Standpunktes, sowohl geografisch als auch politisch. Ingo Mannteufel strukturierte seinen Vortrag in drei Thesen.

Es gibt kein Osteuropa

Die Bezeichnung „Osteuropa“ unterstellt eine Einheitlichkeit, die es so gar nicht gibt. Sie steht meist für den damaligen Ostblock und wird heute vor allem in der Publizistik noch verwendet. Allerdings ist der Begriff auf mehreren Ebenen falsch. Historisch betrachtet könnte so auch Finnland zu Osteuropa zählen, wird aber immer als Teil Nordeuropas gesehen. Laut der OSZE gehören auch Länder wie Kasachstan und Usbekistan zu Osteuropa. Und Polen und Tschechien sind geografisch gesehen Teil von Mitteleuropa. Je nach Definition kann man also verschiedene Grenzen für den Bereich ziehen. Auch lässt die Zusammenfassung als „Osteuropa“ Unterschiede und Einzigartigkeiten unter den Tisch fallen. Dazu gehören die verschiedenen Sprachen, Religionen, Kulturen und der Zeitpunkt der Nationsbildung. Jedes Land hat sein eigenes historisches Narrativ und es ist wichtig, sich in dieses hineinzuversetzen.

Jedes Land hat seine eigenen Herausforderungen

Nach der Wende 1989 wurde von allen Ländern im Osten erwartet, die gleiche Transformation zur gleichen Zeit zu durchlaufen und sich schließlich an die Normen Westeuropas und der EU anzuschließen. Aber diese Verallgemeinerung und Erwartung lässt außen vor, dass jedes Land sein eigenes Tempo und eigene Probleme hat, die eine einheitliche Entwicklung unmöglich machen. Die Perspektive, dass der Osten zum Westen aufschließen muss, drängt einen gewissen Zwang auf, der zusätzliche Hindernisse darstellt. Die Folge daraus: oberflächlich wurden die Normen übernommen, die gelebte politische Kultur stimmt aber noch nicht damit überein.

Große Veränderungen in den letzten zehn Jahren

Gerade im letzten Jahrzehnt hat sich die ganze Welt viel verändert. Dabei sind sieben zentrale Probleme deutlich geworden. Dazu zählen die globale Verschuldung im Rahmen der Finanzkrise, die Frage des sozialen Ausgleichs im geringen Wirtschaftswachstum, der demografische Wandel und das vor allem in letzter Zeit aktuelle Thema Energie und Klima. Vor allem in jüngerer Zeit haben auch die Flüchtlingspolitik seit 2015, Trumps neue Sicherheitspolitik und die Globalisierung und Digitalisierung zu einer weiteren Verschärfung beigetragen. Ängste und Verunsicherung im Zusammenhang mit diesen Themen gibt es vor allem im Osten Europas, weil sie vor gerade 30 Jahren schon einmal einen großen Wandel mit viel Veränderung und Unsicherheit miterlebt haben. Jedoch ist diese Erfahrung des Umbruchs eine der Sachen, die die Staaten, die ehemals zur Sowjetunion gehörten, eint.

Und jetzt?

Der aufkommende Populismus in den Ländern östlich von uns spiegelt nur wider, welche Herausforderung uns selbst in der Zukunft erwartet. Denn diese sieben zentralen Probleme haben auch uns in Deutschland nicht unberührt gelassen und es gibt verschiedene Wege, mit deren Folgen umzugehen und die Krise handzuhaben. Der wahrscheinlich logischste und offensichtlichste ist die Ursachenbekämpfung. Auch die stärkere Sanktionierung von Verstößen ist ein Weg, Staaten zu regulieren, die bereits in der EU sind, die Regeln und geltenden Normen aber missachten. Dazu gehören beispielsweise Polen und Ungarn, die zurzeit Rechtsstaatsverfahren gegen sich laufen haben. Als dritte Möglichkeit könnte man aufhören, die EU als einzig gültige Lösung für ein friedliches Zusammenleben zu betrachten. Es braucht mehr Optionen für europäische Länder als nur die Entscheidung zwischen der EU und Russland.

Fazit: es gibt also kein Osteuropa?

Insgesamt ist es ein viel komplexeres Thema, als dass man es in 1,5 Stunden ausschöpfend behandeln kann. Durch das Publikum kamen in der anschließenden Fragerunde einige gute Nachfragen und Impulse. So wurde vor allem das Thema Geschichtsvergessenheit immer wieder aufgegriffen und mit Bedauern angemerkt, dass gerade jüngere Generationen erst ab dem Zweiten Weltkrieg denken und kaum Wissen über die Jahrhunderte davor haben. Es sei wichtig, die eigenen Wurzeln und die der Nachbarn zu kennen. Auch gab es ein Plädoyer für eine intensivere Diskussion über die Europäische Union und ihre Zukunft. Dabei wäre eine Auflösung zwar fatal, aber so weitergehen wie bisher könne es auch nicht. Die Diskussion um die Klimapolitik im Osten dürfe nicht so scharf geführt werden, da es für viele Länder aufgrund der sozialen Verhältnisse und anderen, schwerwiegenderen Problematiken wie ein Luxusproblem wirkt. Gerade in Polen gibt es durch die starke Kohleindustrie viel Skepsis und Russland lebt vom Erdöl-Export.

Man sieht also, das Thema Osteuropa ist wahnsinnig vielschichtig. Nicht nur der Begriff selbst und dessen Bestimmung, die gar nicht so einfach und eindeutig sind. Schließlich gibt es viele verschiedene Faktoren, die man dabei beachten muss: politische, historische, kulturelle, geografische, gesellschaftliche. Auch die Themen, die die Länder bewegen, und die Blickwinkel, mit denen sie diese betrachten, sind oft ganz andere. Deswegen sind eine Annäherung und ein Kennenlernen so unfassbar wichtig. Denn solange gesagt wird „die im Osten“, solange in Klischees gedacht und noch nicht einmal versucht wird, die Eigenarten der Länder und Menschen zu verstehen, bleiben diese Spaltung und das Gefühl der Befremdung. Das gilt bereits für Ostdeutschland und genau genommen auch für die ganze Welt.