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Warum ich nicht erwachsen bin…

Lesezeit: 2 Minuten

(…oder das Independent-Woman-Paradoxon)

Der Unterschied zwischen den eigenen Ansprüchen an sich selber und dem was letztendlich wirklich aus seinem Mund heraus kommt, ist manchmal größer als einem lieb ist. Das gewünschte Selbstbewusstsein bleibt dabei manchmal auf der Strecke.

Die hitzige Diskussion geht in die entscheidende Phase. Ich sitze betont lässig in meinem Bürostuhl, atme einmal tief durch, überschlage meine Beine und bringe das entscheidende Argument. Die Runde schweigt kurz, möchte fast applaudieren und schaut mich dann mit einer Mischung aus Einsicht und tiefem Respekt an. Welcome to my world, my friends! Ich habe es geschafft.

In der Realität mache ich ein Praktikum im Theater und sitze während einer Probe in einer Runde mit vier Männern, die sich gerade über Feminismus unterhalten. Ich bin die einzige weibliche Person in diesem Raum und habe deshalb natürlich eine Meinung zu dem Thema. Zu jeder Aussage fällt mir eine Anmerkung, eine andere Meinung, oder eine neue Perspektive ein, die die Diskussion vielleicht bereichern würde. Ich bin innerlich voll und ganz dabei. Folge jedem Wort. Ärgere mich teilweise über Meinungen. Habe Gegenargumente, die hinter meinen Lippen Schlange stehen. Und doch sage ich letztendlich gar nichts. Ich bin stiller Teil einer Diskussion, zu der ich etwas beitragen könnte und sage nichts, weil ich Praktikantin bin und nicht weiß, ob das gut ankommen würde. Ich ärgere mich über diesen Umstand und das Praktikum. Doch am meisten ärgere ich mich über mich selbst.

Bürgersteig-Beyoncé

Das ist nicht die einzige Situation in der mein, für mich vorgesehenes Ideal und meine tatsächliche Handlung nicht miteinander übereinstimmen. Ich möchte selbstbewusst und unabhängig sein, doch oft klappt das nur auf dem Hinweg und mit Destiny’s Childs „Independent Woman“ auf den Ohren. Ich fühle die Message und laufe durch die Stadt wie Beyoncé über die Bühne. Innerlich natürlich. Äußerlich hat mein Gang nicht viel mit dem von Frau Knowles-Carter zutun. Aber das ist okay.

Nein, Nein, Nein… aber ja, doch, natürlich!

Als der Regieassistent in die WhatsApp Gruppe schreibt, dass das Wochenende wohl aus „anstrengenden Proben für uns alle“ bestehen wird, möchte ich kurz mein Handy an die Wand knallen. Ein Schauspieler hat sich verletzt und muss neu besetzt werden. Deswegen muss jetzt auch das Wochenende durchgearbeitet werden. Unentgeltlich, das versteht sich natürlich von selber. Ich überlege, ob mein Ärger darüber gerechtfertigt ist, oder ob ich mich bloß anstelle. Der Generation Y wird das ja gerne mal vorgeworfen. Ein Wochenende kann man ja schon mal durchhalten, denke ich und schreibe „Okay, alles klar. Wann muss ich da sein?“. Ich weiß, dass das alles nicht meine Aufgabe ist und ich weiß auch, dass man das sagen könnte. Aber ich sage nichts, ärgere mich im Stillen und nehme am Samstagmorgen die S-Bahn zum Theater.

Mein Schweigen ist meine eigene Schuld. Ich habe Angst, dass eine Beschwerde sich negativ auf das Abschlusszeugnis auswirken könnte und weiß gleichzeitig, dass das absoluter Schwachsinn ist. Ich möchte die Anderen an dem Tag nicht hängen lassen und weiß gleichzeitig, dass diese Anderen für die Stunden bezahlt werden.

Erwachsen bin ich später

Ich weiß auch, dass ich nicht die Einzige bin, die manchmal nicht so selbstbewusst und durchsetzungsstark ist, wie sie gerne wäre. Echtes Selbstbewusstsein ist kein Groschenroman im Ausverkauf, es ist das Sammelheft, für das man Jahre braucht um es komplett zu füllen. Es ist mit Fehlern und Erfolgserlebnissen beklebt. Vielleicht ist man erst mit der letzten Seite dann wirklich erwachsen. Ein paar Seiten in meinem Heft sind noch frei. Die Lücken warten auf Courage. Denn noch bin ich nicht erwachsen.