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Wertekompass neu kalibrieren – Afghanistan in der humanitären Krise

Lesezeit: 4 Minuten

Dieser Kommentar gibt die subjektive Meinung der Autorin wieder.

Afghanistan steckt in einer humanitären Krise. Die USA und ihre Verbündetem sind in Afghanistan gescheitert. Mit der Niederlage werden finanzielle Hilfen eingestellt. Damit wird nicht die Taliban abgestraft, sondern die afghanische Zivilbevölkerung – mal wieder.

Eltern strecken Soldat*innen ihre Kinder entgegen, um sie sowie sich selbst zu retten; junge Männer laufen auf der Landebahn neben einem startenden Flugzeug her, springen todesmutig auf die Trageflächen, ehe sie kurze Zeit später wieder vom Himmel fallen. Diese Bilder vom Kabuler Flughafen aus dem August 2021 haben sich in das kollektive Gedächtnis der Weltöffentlichkeit eingebrannt. Heute ist es in der deutschen Medienlandschaft wieder ruhig um Afghanistan geworden, sodass uns aktuelle Bilder aus Afghanistan nicht mehr erreichen.

Es sind Bilder von bettelnden Greis*innen am Straßenrand, von Kindern, die bei Minustemperaturen barfuß durch den Schnee laufen, in der Hoffnung, dass ihnen die letzten Wertgegenstände der Familie abgenommen werden und Müttern, die in Krankenhäusern um das Leben ihrer unterernährten Kinder bangen. Afghanistan steckt in einer tiefen humanitären Krise. Laut einem Bericht der Vereinten Nationen werden Mitte des Jahres 2022 rund 97 Prozent der Bevölkerung Afghanistans unterhalb der Armutsgrenze leben, wenn nicht bald massive Hilfe eintrifft.

Aussetzung der Zahlung an die Taliban

Die Taliban regiert inzwischen seit rund sechs Monaten das Land. Als Reaktion auf die Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban, stellten die USA und ihre Verbündeten alle Geldzahlungen ein. Die außerhalb des Landes liegenden afghanischen Währungsreserven in Höhe von insgesamt neun Milliarden Dollar wurden eingefroren, um zu verhindern, dass sich ein Islamisches Emirat unter der Führung der Taliban festigt. In der Folge wurden regelmäßige Bargeldlieferungen in das Land eingestellt und Bargeldabhebungen eingeschränkt. Auch internationale Überweisungen in das Land über das Swift-System wurden ausgesetzt. Dies führte bei Exilafghan*innen, die versuchen ihre Familien im Inland zu unterstützen, zu erheblichen Schwierigkeiten und zu einem Rückgriff auf illegale und unsichere Geldtransfers.

Die alte Regierung unter dem Präsidenten Ashraf Ghani erhielt jährlich achteinhalb Milliarden Dollar an militärischer und ziviler Hilfe, das entsprach rund 75 Prozent des Staatshaushalts. Dieser Ausfall in Verbindung mit dem kalten Winter und der Dürre im vergangenen Jahr, führte dazu, dass die ohnehin fragile Wirtschaft Afghanistans weitgehend zusammenbrach.

Die Mär des guten Populisten

Nun erklärte US-Präsident Joe Biden am vergangenen Freitag die Hälfte der eingefrorenen afghanischen Gelder an die Hinterbliebenen von Opfern, die bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 starben, auszuzahlen. Dabei handelt es sich um eine populistische Entscheidung, wie sie auch schon Donald Trump unter dem Deckmantel „Make America Great Again“ den Amerikaner*innen verkaufte, um das erneute Scheitern eines Auslandseinsatzes zu vertuschen. Die andere Hälfte soll in Form von humanitärer Hilfe der afghanischen Zivilbevölkerung zufließen. Dass eine Auszahlung dieser Gelder ohne Mitwirkung der Taliban-Regierung tatsächlich unmöglich ist und die afghanische Zivilbevölkerung mithin nicht erreichen wird, wird nicht thematisiert.

Mit dieser Entscheidung Bidens verschlechtert sich die humanitäre Lage in Afghanistan dramatisch. Bereits vor der Machtübernahme der Taliban, lebte, nach Angaben des UN-Entwicklungsprogramms UNDP, etwa die Hälfte der afghanischen Zivilbevölkerung unter der Armutsgrenze. Nach dem Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten wurde das Land mit wirtschaftlichen Sanktionen überzogen. Neben den eingefrorenen Währungsreserven haben zahlreiche Staaten weltweit die Hilfe für Afghanistan ausgesetzt oder deutlich gekürzt. Mit der Vorenthaltung der afghanischen Währungsreserven, bricht die letzte Einnahmequelle für das Land weg. In naher Zukunft wird fast die gesamte Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, die noch sehr junge Bevölkerung wird wieder in die Arme von den Taliban getrieben und es wird zu massiven Fluchtbewegungen in der Region kommen, die uns auch hier in Europa betreffen werden.

Die Entstehung der Taliban

Leidtragende dieser politischen Entscheidung ist die afghanische Zivilbevölkerung. Diese muss nun die Konsequenzen des Scheiterns des 20-jährigen Engagements der USA und ihrer Verbündeten tragen, obwohl sie weder die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 noch die Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban im vergangenen Jahr zu verantworten hatte. Ganz im Gegenteil.

1979 intervenierte die Sowjetunion militärisch in Afghanistan mit dem Ziel, im Zuge des Ost-West-Konflikts ihre Einflusssphäre auch auf Afghanistan auszuweiten. Darauf reagierten die USA unter ihrem damaligen Präsidenten Ronald Reagan, indem sie mithilfe von Pakistan und Saudi-Arabien die Widerstandskämpfer, die sogenannten Mudschaheddin, finanzierten. Die USA förderten systematisch den politischen Islam als Gegenkraft zur Sowjetunion.

Nach dem Sieg der Mudschaheddin im Jahr 1992 brach ein Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Mudschaheddin-Gruppierungen aus. Damit stellte sich für Pakistan heraus, dass die einzelnen Gruppierungen keine geeigneten Partner waren, um mit ihnen gemeinsam Einfluss auf die künftige Politik des Nachbarlandes zu nehmen. Daher benötigte die pakistanische Armee einen neuen Verbündeten. Zu diesem Zweck rekrutierte ihr militärischer Geheimdienst afghanische Geflüchtete und baute eine neue Miliz auf: Die Taliban. Unterstützung erhielt der pakistanische Staat durch die USA, denn diese erhoffte sich, sich nun wirtschaftlich in Afghanistan engagieren zu können und einen stabilen Bündnispartner in Zentralasien zu etablieren.

Krieg in Afghanistan – eine amerikanische Entscheidung

Am 07. Oktober 2001 marschierten die USA gemeinsam mit ihren Verbündeten in Afghanistan ein. Das militärische Vorgehen der USA gegen das Taliban-Regime hat die Staatengemeinschaft ausdrücklich gebilligt oder zumindest hingenommen, obwohl deren Kontrolle über das für die Angriffe vom 11. September 2001 verantwortliche Terrornetzwerk keineswegs nahe lag. Der afghanische Staat hat die Anschläge nicht selbst verübt. Zudem liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er zur effektiven Bekämpfung der Taliban nicht willens oder nicht fähig gewesen ist und für den Angriff der Terrororganisation selbst verantwortlich war. Die Angriffe wurden der Terrorgruppe Al-Qaida zugerechnet. Keiner der Angreifer war afghanischer Staatsangehöriger. Damit lagen die Voraussetzungen des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts nicht vor.

Im Februar 2020 schloss Donald Trump mit den Taliban das Friedensabkommen von Doha. Der US-Präsident verhandelte mit den Taliban, ohne die afghanische Regierung zu konsultieren und verlieh ihnen damit politische Legitimation.

Es zeigt sich also, dass sowohl das Entstehen der Taliban und damit der vermeintliche Grund für das Engagement der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan als auch die Rückeroberung Afghanistans durch die Taliban Ergebnis amerikanischer Entscheidungen ist und nicht die der afghanischen Zivilbevölkerung.

Die USA muss Verantwortung übernehmen

Daher haben die USA jetzt auch die Verantwortung für ihre Entscheidungen zu tragen. Dabei bedeutet Verantwortung, die Unterstützung für Afghanistan trotz politischer Unwägbarkeiten fortzusetzen.

Die westliche Staatengemeinschaft verschaffte sich mit dem politischen Versprechen, Demokratie, Freiheit und Menschenrechte durchzusetzen, Zugang zu Afghanistan. Es scheint aber wenig glaubwürdig, wenn die USA gerade jetzt, wo sich das Land in einer humanitären Krise befindet, Afghanistan jegliche Unterstützung versagt. Denn die Wertevorstellungen und politischen Modelle des Westens sollten über das Engagement in Afghanistan hinaus weiterhin Bestand haben. Ansonsten haben die USA und die westliche Staatengemeinschaft anderen Großmächten, wie China und Russland, nichts voraus.

Afghanistan befindet sich in einer Abwärtsspirale. Ohne Eingreifen der USA und ihrer Verbündeten droht die humanitäre Krise als unmittelbare Folge des Krieges mehr zivile Opfer zu fordern als der Krieg selbst. Dann stehen die Bilder der von den startenden Flugzeugen herunterfallenden jungen Afghan*innen nicht nur für den strategischen Untergang der USA, sondern auch für den moralischen.