You are currently viewing Was wir von Momo über die Work-Life-Balance lernen können — Interview mit dem Literatur-Professor Hans-Heino Ewers
Bild: Pexels

Was wir von Momo über die Work-Life-Balance lernen können — Interview mit dem Literatur-Professor Hans-Heino Ewers

Lesezeit: 5 Minuten

In schnelllebigen Zeiten gibt es viel zu tun, trotzdem hat der Tag nur 24 Stunden. Das kann schon mal stressig werden. Der Roman Momo vom Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende inspiriert, über unser Verhältnis zur Zeit nachzudenken. Im Gespräch mit Literaturprofessor Hans-Heino Ewers gehen wir der Bedeutung des Romans auf den Grund.

60 x 60 x 24 x 365 x 80 = 2.522.880.000

2.522.880.000 Sekunden dauert dein Leben, wenn du die durchschnittliche Lebenserwartung von 80 Jahren erreichst. Irgendwie viel, aber irgendwie auch ziemlich wenig. Die Wochen fliegen so vorbei, alles passiert auf ein mal und so wahnsinnig schnell. Wäre doch schön, es gäbe eine Möglichkeit, Zeit zu sparen; mehr Zeit zu haben für das, was man eigentlich gerne machen möchte.

Die Fragen nach der Zeit — was sie ist, wo sie herkommt und ob man sie aufsparen kann — stehen im Zentrum von Michael Endes Kinder- und Jugendbuch Momo. Knappe 40 Jahren nach Erscheinen des Romans 1973 ist die Aktualität dieser Fragen ungebrochen. Wer beim Blick in den eigenen Terminkalender einen kleinen Nervenzusammenbruch bekommt — weil einfach nicht genug Zeit da ist — der hat vielleicht auch schon Bekanntschaft mit Momos Widersachern, den grauen Herren, gemacht. Was den Roman so besonders und aktuell macht, worauf seine Gesellschaftskritik abzielt, was wir von ihm lernen können (und was nicht) — über diese Fragen spricht der Professor für Germanistik Hans-Heino Ewers von der Uni Frankfurt im bonnFM Interview.

Story-Time: Momo und die grauen Herren

Momo ist die Geschichte eines verwaisten Menschenkindes, das sich in einer Vorstadt niederlässt und mit den dortigen Bewohner*innen anfreundet. Die Leute mögen Momo, denn sie hat eine besondere Gabe — das teilnahmsvolle zuhören. Das Leben in der Vorstadt geht so dahin — zwar ist es einfach, aber die Menschen leben zusammen in Freundschaft. Bis eines Tages die mysteriösen grauen Herren die Bildfläche betreten und anfangen die Leute zum Eintritt in die Zeitsparkasse zu überreden. Schleichend verändert sich das Leben in der Vorstadt, denn immer mehr Menschen sparen Zeit. Die grauen Herren erkennen, dass Momo, mit ihrer Art im Moment zu sein, der grauen Strategie im Wege steht. Sie wollen das Mädchen unschädlich machen.

Mit Hilfe der Schildkröte Kassiopeia kann Momo fliehen und landet im Nirgend-Haus von Meister Hora, dem freundlichen Wächter der Zeit. Momo wird Zeugin der wunderschönen Stundenblumen und begreift, was es mit der Zeit auf sich hat: Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Beseelt von dieser Erkenntnis schläft sie ein. Doch als sie aufwacht, ist in der echten Welt ein ganzes Jahr vergangen und der gemächliche Vorort ist nun eine hochmoderne, hektische Stadt. Die Menschen sind wahnsinnig beschäftigt, aber auch grau und trist. Aber die grauen Herren sind immer noch nicht zufrieden. Ihr Ziel: Über die gesamte Zeit der Menschen zu verfügen. In einem letzten Versuch, die Zeit der Menschen zu retten, tut sich Momo mit Meister Hora zusammen und auf märchenhafte Weise gelingt es: Die grauen Herren lösen sich auf und das Leben kehrt in die Herzen der Menschen zurück.

Warum catcht uns Momos Geschichte so?

Die von Michael Ende beschriebene hektische, von tristen Menschen mit grauen Gesichtern bewohnte Großstadt ist natürlich eine Dystopie. Trotzdem fühlt man sich beim Lesen ertappt. Das Gefühl, immer mehr in immer kürzerer Zeit schaffen zu wollen, um etwas zu erreichen — sei es ein besonders guter Abschluss, ein beeindruckender Lebenslauf oder ein volles Konto — ist nicht unbekannt. Die literarische Methode mit der Ende vorgeht, ist eine Mischung aus Sozial-Realismus und bildlicher Sprache, erklärt Professor Ewers im Interview. Die Transformation des sozialen Umfelds der Vorstadt vom gemächlichen, freundschaftlichen Umgang zum modernen, anonymen Großstadtdschungel ist realistisch geschildert. Man kann sich vorstellen, dass es wirklich so passiert. In diese realistische Darstellungsform mischt Ende bildliche Figuren, die etwas anderes symbolisieren. So zum Beispiel die grauen Herren, welche den Kapitalismus im Hinblick auf seine entfremdende Wirkung auf den Menschen symbolisieren; oder Momo, die für ein gutes, nicht-entfremdetes Leben im Einklang mit sich selbst steht. Diese Mischung erlaubt es dem Roman, ein komplexes Phänomen auf nachvollziehbare Weise darzustellen.

Tik-Tok on the clock – wie funktioniert die Zeitsparkasse?

Ewers Auffassung zu Folge geht es in dem Roman nicht um die Zeit gemessen in Sekunden und Minuten. Die Zeit, welche die grauen Herren den Vorstadt-Bewohner*innen abluchsen, ist eine Metapher. Sie steht für einen sich in der Zeit erfüllenden Lebensentwurf. Durch einen Vertrag mit der Zeitsparkasse allerdings wird ein solches Leben in Übereinstimmung mit sich selbst verunmöglicht. Mit der Institution der Zeitsparkasse zeigt Ende die Tücken des Kapitalismus auf. Er dockt an, an die protestantische Ethik, welche man an der Wurzel des Kapitalismus vermutet. Kurz gesagt: Der Verzicht auf Lust im jetzt, in der Hoffnung auf einen höheren Gewinn später. Wenn ich jetzt Zeit spare, also auf ein erfülltes Leben verzichte, kann ich später ein noch besseres, erfüllteres, erfolgreicheres Leben führen. Doch dabei handelt es sich um einen Betrug. Die Lebenszeit ist verloren und verpufft mit dem Rauch der Zigarren, die sich die grauen Herren aus den Blüten der Stundenblumen rollen.

Was wir aus Momo (nicht) lernen können

Momo ist offensichtlich ein politischer, gesellschaftskritischer Roman. Er kritisiert den Kapitalismus nicht im Hinblick auf ökonomische Aspekte, sondern hinsichtlich seiner sozialen Effekte: Die Entfremdung des Einzelnen von sich und seinen Mitmenschen. Ewers warnt aber davor, Endes Werk überzustrapazieren: Momos Sieg über die grauen Herren kann nicht als revolutionäre Strategie gedeutet werden. Der Roman zeigt zwar ein gesellschaftliches Problem auf, bietet aber keine Lösung an, wie dieses Problem politisch angegangen werden könnte. Es ist ein Gleichnis mit einem märchenhaften Ende. Es ist zu schön, um wahr zu sein. Trotzdem sei es beeindruckend, dass Ende in Form der grauen Herren eine literarische Darstellung des Kapitalismus geschaffen hat, die sofort jedem einleuchtet. Er spricht sogar von einem modernen Mythos.

Die politische Forderung hinter Endes Roman richtet sich auf eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die nicht unter dem Diktat einer grenzenlosen Maximalökonomie steht. Diese Forderung erkennt Ewers auch bei der Generation von jungen Menschen, die sich gerade auf dem Arbeitsmarkt etablieren. Das Stichwort lautet Work-Life-Balance. Auf Grund dieser Parallele legt Ewers gerade der Gen Z nahe, Endes Roman von 1973 heute wiederzuentdecken. Das Kinderbuch hat nämlich gerade (jungen) Erwachsenen viel zu sagen: So auch der Titel von Ewers 2018 im Kröner Verlag erschienen Buchs Michael Ende neu entdecken. Was Jim Knopf, Momo und die Unendliche Geschichte Erwachsenen zu sagen haben“

Politik hin oder her — eine take-home-message, die wohl jede*r aus dem Roman mitnehmen kann, ist die Lebensphilosophie von Momos bestem Freund Beppo Straßenkehrer. Im Gespräch mit Momo erzählt der alte Beppo von seiner Strategie, um auch mit der längsten Straße fertig zu werden:

Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen. Und dann fängt man an, sich zu beeilen. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

Beppo Straßenkehrer in Momo