Während die einen noch hitzig über die Begriffe „Sonderrechte oder Grundrechte“ diskutieren, scheinen die Medien ein neues Lieblingsthema gefunden zu haben: Impfneid. Aber sind wir wirklich neidisch? Und was verlieren wir durch die Diskussion über Impfneid und Impfscham vielleicht aus den Augen? Prof. Dr. Heinrichs erklärt, warum Imfpneid vielleicht der falsche Ausdruck ist. In einer Umfrage mit Studierenden der Universität Bonn, kommen wir außerdem dem eigentlichen Gefühl hinter #Impfneid ein Stück näher.
#Impfneid – der neue Medienliebling
Inzidenzzahlen, Todeszahlen, Zahl der Erkrankten. Wir scheinen uns während Corona an eine einzige Statistik zu klammern. Auch derzeit blicken wir gespannt auf eine Zahl und verbinden mit ihr ein großes Stück Hoffnung: Die Zahl der Geimpften. Zugegeben, noch ist es ein vergleichsweise matter Hoffnungsschimmer bei derzeit 8,8 % vollständig Geimpften in Deutschland. Doch die Bundesregierung verspricht mehr Tempo und setzt noch ein weiteres Versprechen oben drauf: Erleichterungen für bereits Geimpfte und Genesene. Ab Sonntag, den 09.05., gelten für sie keine Ausgangsbeschränkung, Testpflicht oder Kontaktbeschränkung mehr. Während die einen noch darüber streiten, ob man ihre Erleichterungen nun als „Freiheiten“ oder doch eher als „Grundrechte“ bezeichnet, findet nebenan eine ganz andere Diskussion statt. „Impfneid“ scheint der neue Medienliebling zu sein, ob im Fernsehen, der (Online-) Zeitung oder unter einem neuen Hashtag auf Social-Media. Impfneid, das kommt in etwa dem Gefühl gleich, das man als Kind fühlte, wenn man mit Stubenarrest zu Hause saß und aus dem Fenster beobachtete, wie die Nachbarskinder zum Eiswagen liefen. Man schmollte und wünschte sich, ihnen würde das Eis aus der Hand fallen. Wer noch nicht geimpft ist gönnt das und alles, was daran hängt, auch keinem anderen – so der Impfneid.
Aber stimmt das? Und kann man das, was wir empfinden, überhaupt so vereinfachen? Vor allem aber – wie sinnvoll sind Debatten um „Impfneid“ und „Impfscham“ jetzt, da wir der Corona-Impfung näher sind als zuvor?
Impfneid oder Freiheitssehnsucht, was wird hier eigentlich unterstellt?
Bevor wir uns in die Diskussion über Impfneid stürzen, sollten wir den Begriff richtig einordnen- Dabei hilft mir Prof. Dr. Bert Heinrichs, er ist Professor für Ethik und Angewandte Ethik am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) der Universität Bonn.
Prof. Heinrichs, handelt es sich bei der Debatte tatsächlich um „Impf-Neid“ – Ist es nicht eher Freiheits-Neid?
Heinrichs: Wenn man über Impf-Neid spricht, kann man entweder neidisch sein, dass jemand geimpft ist, oder neidisch darauf sein, dass die Geimpften etwas tun können, was die Nicht-Geimpften nicht können. Tatsächlich glaube ich, dass aktuell eher letzteres im Vordergrund steht – genau wie Sie mit dem Begriff „Freiheitsneid“ bereits andeuten: Der Wunsch, über Freiheiten zu verfügen, die bereits Geimpfte wiedererlangt haben.
Was ist denn mit dem zweiten Begriff, dem Neid. Wie würden Sie ihn definieren?
Heinrichs: Neid ist der, als moralisch-falsch beurteilte, Wunsch einer Person, ein Gut zu erlangen, das eine andere Person hat, oder der Wunsch, diese Person möge das Gut verlieren, solange die neidische Person es nicht selbst auch hat. Neid ist in beiden Fällen also moralisch negativ konnotiert. In diesem Fall wird Neid eher polemischer verwendet, es ist kein besonders netter oder differenzierter Begriff.
Perspektivwechsel
Differenziert oder nicht, ein Begriff wie Impfneid klingt erst einmal griffig, ein Stück weit provokant und jeder kann sich etwas darunter vorstellen. Perfekt also, um damit Debatten auf sämtlichen Ebenen anzustoßen, die von Meinungsspaltung bis zur Zwei-Klassen Gesellschaft reicht. In einigen Berichterstattungen, wie der des ZDF oder der mdr, stellt Impfneid vor allem ein Phänomen unter Jugendlichen dar. Das Spiegel-Magazin spricht sogar explizit von Impfneid bei Studierenden. Fragen wir dazu die Studierenden selbst; In einer anonymen Umfrage konnten sich Studierende der Universität Bonn zum Thema Impfneid äußern. In einer ersten Frage sollten sie angeben, was sie bei einer Erleichterung für Geimpfte und Genesene empfinden. Das Ergebnis zeigt, dass tatsächlich eine Emotion klar das Meinungsbild bestimmt: Freude. Es wäre richtig, dass Geimpfte und Genesene ihre Grundrechte zurückbekämen, so die überwiegend freiheitsstaatliche Argumentation. Von „motivierend“ war auch die Rede. Wenige gaben zu verstehen, dass sie Erleichterungen zwar für sinnvoll halten, aber nur sofern von Geimpften/Genesenen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht. Auf der Seite des aerzteblatts beispielsweise, könnt ihr euch darüber informieren, wie hoch das Restrisiko von Geimpften ist.
Wir beneiden nicht, aber wir bedauern
Einige der Studierenden zeigten sich in der Umfrage zwiegespalten, sprachen von einer „gedämpften“ Freude, angesichts der weiter geltenden Maßnahmen für sie als Nicht-Geimpfte. Muss man deswegen gleich von Neid sprechen? Das sicher nicht, sagt Prof. Heinrichs
Heinrichs: Es hat etwas vorwurfsvolles, jemanden neidisch zu nennen. Es ist ja auch ein Begriff, der auf den Charakter abzielt. Und jemanden als neidischen Charakter zu bezeichnen, naja. Hilft das wirklich weiter in einer Diskussion? Nach meinem Eindruck finden es die allermeisten Menschen eher schade, dass sie selbst nicht geimpft sind, machen aber anderen die es sind keinen Vorwurf. Ich denke „bedauern“ wäre ein naheliegender und differenzierterer Begriff als Neid. Ich kann bedauern, dass ich noch nicht geimpft bin, aber mich gleichzeitig freuen, dass andere es sind.
Dieses Empfinden spiegelt sich auch in der Umfrage wider. Die wenigsten hielten es für hilfreich oder angemessen, dass alle zu Hause bleiben, bis jede*r ein Impfangebot bekommen hat. Vielleicht ist es also bei den meisten doch eher ein: Ich will das auch, statt einem ich will nicht, dass du es hast. Und ist dieses Empfinden nicht verständlich? Bedauern drückten hingegen einige aus, wohl aber auch über die Debatte an sich. Als unnötig oder dramatisiert empfanden sie mehr als die Hälfte, für fast dreiviertel spielte Impfneid überhaupt keine Rolle.
Party Rock not in the house tonight
Einzelne Studierende fanden zwar eine Debatte an sich gut, empfinden die derzeitige aber als teils sehr einseitig. Einseitig, gerade auch wenn es um die Darstellung von Studierenden geht, deren Interessen oft auf das Feiern reduziert werden. Wenn ihre Bedürfnisse dann auch noch äußerst plakativ den Bedürfnissen Lungenkranker und Intensivmediziner*Innen gegenüber gestellt werden, wie es in einer Instagram-Caption des Spiegels der Fall war, geht mediale Darstellung weit über Einseitigkeit hinaus. Die Caption enthielt ein Zitat aus einer Spiegel-Kolumne und bewirkte einen Kommentarhagel unter dem Post. Die Kolumne selbst, verbirgt sich derweil hinter einer Paywall. Das Magazin hat mittlerweile weitere Kolumnen veröffentlicht, die eine andere Sicht auf die Dinge abbildet. Eine konkrete Stellungnahme von Studierenden, war bisher aber noch nicht dabei. Schade, denn auch im öffentlichen Diskurs scheint oft die Meinung vertreten zu sein, dass Feiern alles sei, was Studierende vermissen. Natürlich ist auch gegen das Feiern nichts schlimmes einzuwenden, daran musste mich Prof. Heinrichs auch erstmal erinnern.
Heinrichs: Der implizite Vorwurf „Jetzt denken die nur ans feiern“ das unterstellt ja auch, dass das Feiern etwas ist, das unwichtig wenn nicht sogar anbrüchig ist. Es gehört in unserer Gesellschaft ein Stück weit dazu, dass man in dieser Lebensphase feiert. Jetzt so zu tun als wäre es nicht richtig, dass Studierende eine berechtigte Sehnsucht danach haben. Auch das finde ich falsch.
Das eigentlich schlimme an solchen Darstellungen ist aber auch die Polarisierung, die sie bewirken. Jugendlichen und/oder Studierenden wird unterstellt, unsolidarisch, ungeduldig und egoistisch zu sein – oder eben neidisch. Und das, nachdem die meisten von Ihnen viel eingesteckt haben, nicht für ihre eigene Gesundheit, sondern für die Allgemeinheit. Sie waren solidarisch. Die Frage die sich daraus ergibt ist: Wieviel Solidarität wünschen wir im Gegenzug und wieviel können wir erwarten?
„Solidarität ist keine Einbahnstraße“ aber muss sie deswegen ein Kreisverkehr sein?
In der Umfrage konnten sich die Studierenden auch zur Aussage „Solidarität ist keine Einbahnstraße“ äußern, ein Satz, der in Zusammenhang mit der Impfneid-Debatte häufig gefallen ist. Oft hieß es damit: Wenn es noch kein Impfangebot für alle gibt, sollten Geimpfte und Genesene auch keine Erleichterungen bekommen. Wenn ich noch zu Hause bleibe, tut ihr das bitte auch. Der überwiegende Anteil der Studierenden stimmte einem Verlangen nach Solidarität zwar zu, verstand darunter aber nicht, Geimpften ihre Grundrechte zu verweigern. Der obenstehende Satz sei oft falsch interpretiert, schrieb ein/e Studierende/r. Eindeutig sprachen manche von Anerkennung: „Es wäre wichtig zu sehen, dass die Bedürfnisse junger Leute der Gesellschaft jetzt auch (mal) wichtig sind.“ So ein Zitat aus der Umfrage. Prof. Heinrichs sieht das ähnlich. Er spricht von einer Solidaritätspflicht, die auch Jüngere nun mit gutem Recht einfordern können- ohne anderen ihre Grundrecht abzuerkennen. Symbolische Gesten der Solidarität und Dankbarkeit seien angebracht. Ergänzend wirkt in diesem Zusammenhang der Kommentar der Grünen-Politikerin Ricarda Lang in einem Deutschlandfunk-Interview
„Statt Debatten über Impfneid sollten wir vor allem über diese solidarischen Debatten sprechen und darüber, wie wir ein neues Generationenversprechen für diese Generation geben können, das auch verhindert, dass die das Vertrauen in die Politik verlieren und auch das Vertrauen in die Gesellschaft.“
Und wie könnte so eine Solidarität aussehen?
Über Grundrechte, Freiheiten und Perspektiven von Studierenden genauso zu sprechen, wie über die aller anderen, das wäre wünschenswert. Eine differenziertere Darstellung von Studierenden, ihrer Sorgen und Wünsche und eine Miteinbeziehung ihrer Meinung im (medialen) Diskurs, das wäre für viele zumindest ein Anfang. Denn wenn uns eines durch die Pandemie noch einmal klar geworden ist, dann dass ein intaktes Miteinander unserer Gesellschaft im aller ersten Schritt ein Miteinander kommunizieren erfordert. Und das erfordert auf der einen Seite jemanden, der offen darüber spricht und auf der anderen Seite jemanden, der ein offenes Ohr bietet. Doch die Stimme der Studierenden scheint irgendwo in der stillen Post verloren gegangen, während das vermeintliche Sprachrohr zwischen ihnen und der Politik mit Debatten wie #impfneid verstopft wird.
Ein Zeichen der Wertschätzung und Solidarität für Studierende? Finanzielle Förderung durch z.B. verlängertes oder erhöhtes Bafög oder eine Erleichterung bei Kreditrückzahlungen – so die fast einstimme Antwort der Umfrage. Fast alle freuen sich aber vor allem auf die Aufhebung der Impf-Priorisierung. AstraZeneca macht da den ersten Schritt. Bei diesem einen Schritt in die richtige Richtung darf es nur eben nicht bleiben. Denn für viele, auch Studierende, werden die Auswirkungen der Pandemie auf die finanzielle Lage oder die mentale Gesundheit auch nach den Impfungen noch spürbar sein. Da wir hier auf einem Spielfeld stehen, bei dem andere für uns die Würfel rollen, sollten sie sich zumindest unsere Spieltipps anhören. Oder gerne mal etwas anderes spielen als „Mensch ärgere dich nicht“.