Wie die 35-jährige Marie Jacquot, neue Chefdirigentin des WDR-Sinfonieorchesters, sich von der Opernhasserin zum hoffnungslos verfallenen Fan verwandelte und welches DJ-Projekt mit ihr auf Köln zukommt, teilt sie im Interview mit bonnFM-Reporterin Sana Strahinjic.
Hinweis: Gegen Ende des folgenden Beitrags werden sexuelle Gewalt und Mord in einer fiktiven Erzählung thematisiert.
BonnFM: Frau Jacquot, wie sind Sie dazu gekommen, Dirigentin zu werden?
Jacquot: Es war alles ein Zufall. Mein Vater hat uns drei Geschwistern die Chance gegeben, Sport und Musik zu machen. An Sport war ich damals mehr interessiert als an Musik. Ich wollte Tennisspielerin werden. Bis zu dem Zeitpunkt, als mich dieser Hochleistungssport und der Wettbewerb nicht mehr angesprochen haben. Ich bin viel mehr ein Team-Mensch und das war ständiger Wettkampf.
Dann habe ich Posaune im Blasorchester gespielt und die Wertschätzung für das gemeinsame Musizieren ist in mir größer geworden. So habe ich mit Tennis aufgehört und wollte Posaunistin werden. Der Dirigent des Orchesters, in dem ich gespielt habe, war ein sehr, sehr netter Mensch, und er hat damals eine Dirigierklasse angefangen. Ich habe ihn mir als Vorbild ausgesucht und ihn gefragt, ob ich bei ihm Unterricht nehmen könnte. Er hat gesagt: „Ja, natürlich. Ich habe eine Dirigierklasse angefangen, vielleicht darfst du teilnehmen.“ Ich war 14. Und ich sage immer, wenn er Bäcker gewesen wäre, wäre ich Bäckerin geworden. Er war einfach eine Figur, die mir gefallen hat. Dann habe ich angefangen mit Dirigieren. Ich bin nicht schlecht gewesen, weil ich so einen Bezug zu meinem Körper hatte, durch Tennis. Nach drei Jahren Unterricht bei ihm hat er gesagt: „Du bist nicht unbegabt mit deinen Armen, vielleicht willst du probieren, Dirigentin zu werden. Ich habe gehört, dass es eine Dirigierklasse in Wien gibt, die super für die Prüfungsvorbereitung wäre.” Ich habe mitgemacht, und so bin ich Dirigentin geworden. Es war nie mein Wunsch von klein auf Dirigentin zu werden.
BonnFM: Was ist denn Ihre schönste Erinnerung an Ihren Beruf?
Jacquot: Ich glaube, ich habe zwei schöne Erinnerungen. Die erste ist vielleicht nach meinem Studium. Als ich meinen Abschluss hatte, war ich 24 Jahre alt. Ich habe mir damals als Ziel gesetzt, bis 30 eine dirigentische Position zu bekommen. Wenn ich das nicht geschafft hätte, hätte ich mir etwas anderes überlegt. Ich wusste auch nicht, was. Mit 27 war es dann aber so weit, und ich bin erste Kapellmeisterin in Würzburg geworden für drei Jahre. Ab diesem Moment habe ich mir gesagt: „Alles, was jetzt noch dazukommt, sind nur Geschenke. […] Damit kann ich komplett glücklich sein“. Das ist einer der schönsten Momente, der mich immer noch begleitet auf meiner Laufbahn.
Der zweite Moment war in Duisburg, als ich Kapellmeisterin in der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf-Duisburg war – drei Jahre lang. Da habe ich mit dem Orchester ein Stück mit einem Amateurchor dirigiert. Das Orchester kam zu mir und hat mich gewarnt: „Pass auf, Marie, der Chor ist nicht der Beste, es ist ein bisschen mühsam“. […] Am Sonntagvormittag hatten wir eine Probe mit dem Chor, und ich war ein bisschen im Schock. Es war schlimmer, als ich erwartet hatte. Wir haben sehr intensiv geprobt, und ich habe sie wirklich wie – es war unabsichtlich – aber wirklich so wie professionelle Musiker behandelt. Ich habe bis zum Schluss insistiert – musikalisch, Intonation und alles. Ich war nett und mit Begeisterung da. Und das waren wahrscheinlich die zwei besten Konzerte meines Lebens. Es war musikalisch so schlecht, die Intonation war so schlecht und es war eigentlich musikalisch nicht befriedigend. Aber diese Begeisterung, mit der sie gesungen haben, und diese Sterne in den Augen, und diese große Liebe, die sie ausgestrahlt haben – das ist für mich wahrscheinlich wirklich eines der besten Ereignisse meines Lebens. Das heißt, es braucht nicht das höchste musikalische Niveau, um solche fantastischen menschlichen Begegnungen zu erleben.
BonnFM: Würden Sie denn sagen, mit der Zeit ist bei Ihnen eine gewisse Ernüchterung eingetreten? Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich als Kind damals gemerkt habe, wie die Leidenschaft an der Musik verloren geht, wenn man so viele Stunden hineininvestiert zu üben. Marie Jacquot nickt verstehend. Ist das bei Ihnen auch passiert?
Jacquot: Mir macht es immer noch Spaß. […] Ich glaube, die Musik an sich könnte irgendwann mal vielleicht im Hintergrund stehen. Aber die Begegnung mit Menschen glaube ich nie. Weil das endlos ist. Aus dieser Begegnung kannst du auch so viel über dich selbst lernen. Ich finde, Musiker oder Musikerin zu sein ist das beste Umfeld, um sich kennenzulernen, und zu verstehen, warum man überhaupt in dieser Welt ist. Und ich glaube nicht, dass das irgendwann aufhört. Diese Lebendigkeit, diese Neugierde, neue Menschen zu treffen wird, glaube ich, immer bleiben. Musizieren ist für mich vor allem eine menschliche Begegnung. Und danach kommt erst die Musik.
BonnFM: Was ist Ihnen denn am WDR-Sinfonieorchester aufgefallen, als Sie es kennengelernt haben? Gibt es etwas, worauf Sie sich schon besonders freuen?
Jacquot: Mein Eindruck bei unserer ersten Begegnung war: Super offen. […] Also unkompliziert, irrsinnig viele junge Menschen. Es gab einen Generationswechsel, der Orchestervorstand ist jünger als ich. Ich habe mich schon damals mit ein paar Musikern und Musikerinnen – auch wenn die Zeit sehr kurz war – sehr gut verstanden. Als sie mich ein paar Monate nach dieser ersten Begegnung gebeten haben, ihre Chefdirigentin zu werden, war das für mich eine Ehre. Ich habe mich außerdem darin bestätigt gefühlt, dass dieses positive Gefühl beidseitig da war. Und das war wirklich ein schönes Erlebnis.
BonnFM: Das glaube ich. Haben Sie spezielle Pläne für die Zeit mit dem WDR-Sinfonieorchester?
Jacquot: Wir sind jetzt am Basteln, am Planen. […] Ich freue mich irrsinnig auf diesen Austausch. Wir planen ziemlich vielseitig zu sein. Ich bin ja auch noch vielseitig. Wenn ich älter bin, werde ich mich vielleicht auf eine bestimmte Sache fokussieren. Jetzt finde ich es noch spannend, sehr viel zu erleben – auch im Repertoire.
Neue Musik wird auch ein Teil des Programms sein. Ich finde, es ist sehr wichtig, mit seiner Zeit zu gehen. Es ist unsere Pflicht, Komponisten und Komponistinnen aufzuführen, aber dem Publikum auch neue Musik näherzubringen. Also vielleicht auch Komponisten und Komponistinnen zu suchen, die ihre Stücke gerne einem Publikum präsentieren wollen. Und nicht nur so komplizierte Musik, die niemand versteht. Das ist kopflastig. Ich möchte Komponisten präsentieren, die mit Herz verbunden sind.
Wir werden auch Wiener Klassik musizieren, in Köln gibt es zu wenige Orchester, die das machen. […] Die Wiener Klassik liebt auch das Publikum – Mozart, Haydn, Beethoven. Sie gut zu spielen ist zwar eine große Herausforderung, aber auch nützlich für das Orchester, das sich dadurch wieder auf die Grundlagen fokussieren kann. Ich habe als Posaunistin außerdem eine große Begeisterung für Anton Bruckner. Wir überlegen einen Bruckner-Zyklus zu machen. Schauen wir mal. Also es wird sehr vielseitig.
Marie Jacquot lächelt motiviert. Ach und wir haben noch ein Projekt! Es ist mir wichtig, dass wir versuchen, in der Region relevant zu sein, aber vor allem in der Stadt Köln. Die Leute sollen sagen: „Es ist wichtig, dass wir ein großes Sinfonieorchester haben. Wir brauchen das, wir sind auch stolz darauf“. Ich versuche, ein Konzept zu entwickeln, um die Stadt oder die Menschen der Stadt einzubinden. Eine große Idee von mir ist eine Uraufführung mit einem berühmten deutschen – oder vielleicht sogar Kölner – DJ zu machen.
BonnFM: Haben Sie da schon etwas Genaueres?
Jacquot: Noch nicht. Ich habe die Idee in die Welt gesetzt, und die tollen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des WDR versuchen, das Realität werden zu lassen.
BonnFM: Dann bin ich gespannt darauf, was dabei herauskommt!
Jacquot grinst freudig.
BonnFM: Das Business ist ja schon relativ hart in der klassischen Musik. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es im Dirigat gerade am Anfang noch härter ist. Da es sich um eine Führungsposition handelt, stehen noch weniger Stellen zur Verfügung. Wie haben Sie es geschafft, sich Ihren Traum zu erfüllen?
Jacquot: Ich habe einfach Glück gehabt, in den richtigen Momenten da gewesen zu sein, und die richtigen Menschen getroffen zu haben, die mir geholfen und mich unterstützt haben. […] Dafür bin ich sehr dankbar.
BonnFM: Sie denken also, es liegt vor allem am Glück. Aber haben Sie nicht vielleicht auch etwas Besonderes dafür gemacht?
Jacquot: Natürlich hoffe ich, dass ich mein Glück selbst produziert habe. Ich bin zum Beispiel immer sehr offen gegenüber allen Menschen gewesen. Und ich war offen für Neue Musik: An der Uni habe ich extrem viele Uraufführungen von jungen Komponisten und Komponistinnen dirigiert. Nach fünf Jahren Studium bekam ich dann über meinen Dozenten eine Anfrage, Assistentin von Kirill Petrenko an der Staatsoper München zu werden, weil sie dort gerade jemanden gebraucht haben, der sich mit Neuer Musik auskennt. Ich war die Einzige an der Uni, die Neue Musik schon dirigiert hatte. Dabei habe ich Neue Musik nicht einmal besonders gern gehabt. […] Das war also die eine Chance, die ich ergriffen habe.
Und dann habe ich noch Opern gehasst. Ich habe mich trotzdem für ein Vordirigat in einem Opernhaus beworben. Ich habe einen Lehrer von mir um Hilfe gebeten, mich mit einer Oper vorzubereiten, obwohl ich nie in meinem Leben eine Oper dirigiert hatte. Dann habe ich diese erste Opernposition bekommen in Würzburg. Und hier bin ich heute – jetzt liebe ich Opern über alles. […]
BonnFM: Ich komme ja von einem studentischen Radio, klassische Musik begleitet mich aber seit ich denken kann. Und ich finde es deswegen häufig schade, dass andere den Bezug dazu nicht haben, weil es so schön und bereichernd sein kann. Vielleicht haben Sie eine Idee, wie man diesen Zugang mit anderen teilen kann? Ich höre oft: „Das ist nicht meine Welt, das ist zu weit weg von mir“.
Jacquot: Ja, das sagt meine Cousine auch. Ich glaube, die ist vielleicht in deiner Generation. Sie ist glaube ich zweimal zum Konzert gekommen. Einmal hat sie das irgendwie noch gemocht. Das zweite Mal hat sie gesagt, sie hätte es überhaupt nicht kapiert, es wäre nicht ihre Musik. Sie war froh, als sie gehen konnte.
[…] Früher hat mein Vater immer Radio Classique, also einen klassischen Sender, eingeschaltet. Nach zwei Minuten klassischem Sender habe ich sofort umgeschaltet auf Popmusik, weil ich klassische Musik überhaupt nicht mochte. Dann habe ich mich auf diese Welt eingelassen, und mochte sie doch immer mehr und mehr. Ich habe angefangen, im Orchester zu spielen und ich habe die richtige Person getroffen, die mich begeistern konnte. Ab dann habe ich nur noch klassische Musik gehört. Also bei mir war das schon so ein Wow-Erlebnis. Dieser Mensch war mein „Welteröffner“. Man muss wohl hartnäckig sein und immer wieder hingehen. Ich glaube, irgendwann kommt es dann dazu, dass du das magst.BonnFM: Sie meinten vorhin, dass Sie Opern früher nicht mochten. Gab es vielleicht ein Stück, das Sie damals besonders berührt und somit überzeugt hat? Eine besondere Empfehlung?
Was mich von der Oper abgehalten hat, ist, dass ich nicht aus einer Musikerfamilie komme, das heißt, ich war nie in der Oper als Kind. Zweitens habe ich die Stimme nicht gemocht. Marie Jacquot imitiert leiernden Operngesang. Dieses Vibrato, das habe ich nicht kapiert. Und drittens, die Stories waren eine Katastrophe: „Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch, und jetzt sterben wir alle.“ Es stirbt immer jemand.
Aber ich kannte auch nicht wirklich das Opernrepertoire. Es gibt natürlich viele Opern, bei denen das nicht so ist, völlig andere Opern, bei denen Geschichten fantastisch und sehr aktuell sind. Eigentlich kannst du in der Oper fast immer die Geschichte in unsere Zeit übertragen. Zum Beispiel Romeo und Julia. Es ist uralt, aber es ist immer noch aktuell. Es gibt immer noch solche Liebende, die sich treffen und trotzdem funktioniert es nicht aus irgendeinem Grund. Sei es, dass man sich betrogen hat, oder sonst irgendetwas. Diese Liebesstoffe sind sowieso universell.
Ein großes Erlebnis war für mich Tosca von Puccini. Zweiter Akt, sensationell. Es ist mehr oder weniger Vergewaltigung und das spürst du auch in der Musik. Die Frau versucht diese schlimme Situation zu benutzen, um ihre Liebe zu retten. Sie wird die Person töten, die sie vergewaltigen wollte. Das heißt also auch extrem viel Gewalt.
Am Ende soll der Mann, in den sie verliebt ist, hingerichtet werden. Aber sie hat gerade eine Abmachung gemacht mit dem Typen, der versucht hat, sie zu vergewaltigen, damit für die Hinrichtung ihrer großen Liebe Platzpatronen benutzt werden. Sie denkt „Es wird alles gut, mein Schatz, glaub mir, es wird kein Problem sein“, weil sie glaubt, er wird leben. Aber er weiß es nicht, er glaubt, er stirbt. Und diese Musik an der Stelle, die hat alles in sich getragen! Marie Jacquots Augen leuchten auf. Trauer, Glück, du konntest nicht wissen, ob es eine glückliche Situation ist oder eine traurige. Im Endeffekt stirbt ihr Geliebter, weil der andere Typ sein Wort nicht gehalten hat. Aber sie weiß das nicht. Weil ich neu in der Opernwelt war, saß ich erst da und habe gedacht: „Ich verstehe es nicht, er stirbt doch. Warum ist sie so glücklich?“. […] Es gab währenddessen keine Untertitel, ich habe wirklich nicht viel kapiert. Dann kam ich nach Hause und habe auf Wikipedia nachgeschaut, was die Geschichte von Tosca ist. […] Ich war fasziniert. Das ist ein Erlebnis, das mich mein Leben lang begleiten wird, weil die Musik eigentlich schon die ganze Geschichte in sich getragen hat. Das ist mein Opernerlebnis. Seitdem liebe ich Opern über alles.
