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Neuer Lebensabschnitt = neues Ich?

Weg von zu Hause und auf in die Studi-Stadt. Das bedeutet neue Leute, neue Orte, neue Erfahrungen, neue Herausforderungen – und damit ja wohl auch ein neues Ich, oder nicht? Ich muss mich ja verändern, oder nicht?

Als ich vor drei Jahren aus der Heimat nach Bonn gezogen bin, ging mir folgendes wieder und wieder durch den Kopf: „Niemand hier kennt mich. Niemand weiß wer ich bin, wie ich so ticke und was ich bisher so erlebt habe“. Für einige mag das wie Freiheit klingen. Komplett von vorne anfangen, bei Null, wie auf einem unbeschriebenen Blatt Papier. Mir hat es aber eher Angst gemacht. Es hat mich eingeschüchtert, dass mich bisher nichts mit jemandem hier verbindet – keine gemeinsamen Erlebnisse und Momente. Für mich bedeutete es, dass niemand weiß, wie ich denke oder fühle. Dass niemand mich verstehen kann, ohne dass ich dafür viel erklären muss.

Das ist bei anderen ja auch so, oder?

Nach meinem Auszug habe ich im Prinzip nur darauf gewartet, dass ich mich verändere. Ich hatte die Erwartung, dass es so sein muss und dass es so richtig ist. Bei zahlreichen Leuten aus dem sozialen Umfeld oder auf Social Media bekommen wir mit, wie sehr ein neuer Lebensabschnitt sie prägt. Sie erzählen davon, wie sehr sich ihre Gewohnheiten und Verhaltensweisen verändert haben und in welchem Maße sie zu einer anderen Person geworden sind. Sie bauen sich ein neues soziales Umfeld auf, verbringen Zeit an neuen Orten und entwickeln vielleicht andere Interessen. Bei mir hat sich deshalb der Druck aufgebaut, dass ich in einer neuen Stadt nicht „Ich“ bleiben darf, sondern ein „neues Ich“ brauche.

Eher ein Kreislauf, als ein Prozess

In den ersten Wochen und Monaten in Bonn habe ich viele neue Eindrücke sammeln können. Ich war etwas überwältigt von den ganzen neuen Optionen, gleichzeitig aber auch inspiriert. Ich habe mir viel zugetraut und mich damit selbst überrascht. Sei es Teil der Fachschaft zu werden, mich beim Uniradio einzubringen, Karaoke zu singen oder offen auf andere zuzugehen. Ich hatte Lust, mich auf Neues einzulassen und herauszufinden, was mir Freude bereitet und mit welchen Leuten ich mich wohl fühle. Stück für Stück habe ich im anfangs noch Unbekannten meinen Platz gefunden. Rückblickend fällt mir jedoch auf, dass dieser Prozess auch nach mehreren Semestern nicht beendet ist. Es gibt immer wieder neue Seiten an der Stadt, der Uni, den Menschen, den Plätzen und mir selbst zu entdecken.  

Ich muss nicht, aber ich darf

Ich hätte zur Anfangszeit selber gerne gewusst, was mir jetzt nach mehreren Jahren in Bonn bewusst geworden ist: Ich muss mein „altes Ich” nicht für mein „neues Ich” aufgeben, beide können in einem gewissen Maße koexistieren. Ich muss keine neue Persönlichkeit entwickeln, aber ich darf neue Dinge ausprobieren, die nicht in meiner Komfortzone liegen. Ich kann die Heimat vermissen und zur gleichen Zeit darf sich die unbekannte Stadt wie ein neues und zweites Zuhause anfühlen. Ich muss nicht alles machen, was andere Studis machen, aber ich darf mich wie ein Studi fühlen. Ich kann neue Freundschaften führen, die sich anfühlen, als hätten wir uns schon immer gekannt, während ich alte Freund:innen besuche und mit ihnen alles so wie früher ist.

Zusammengefasst bedeutet das: Ich muss mich nicht verändern, aber ich darf. Ein Teil der Veränderung wird ganz automatisch passieren, aber einen anderen Teil davon kann ich selbst bestimmen. So wie es sich für mich richtig anfühlt. Ein neuer Lebensabschnitt bietet uns die Chance, einen Teil von uns kennenzulernen, der sonst vielleicht versteckt geblieben wäre. Wenn ich es möchte, kann mein „altes Ich“ mich aber nach wie vor auf meinem Weg begleiten.