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Gregor Gysi im Rhein/Sieg-Forum

Gregor Gysi im Rhein-Sieg-Forum

Lesezeit: 5 Minuten

So würdigt der Alterspräsident den Tag der Befreiung

Es ist der 10. Mai 2025. Genau 80 Jahre und zwei Tage nach Ende des zweiten Weltkriegs in Europa. Genau einen Tag nach der Todesmeldung der Zeitzeugin Margot Friedländer. Und Bundestagsabgeordneter Gregor Gysi ist zu Gast im Rhein-Sieg-Forum, um über die Herausforderungen von Kriegsende bis Gegenwart zu sprechen.  

Die Abendsonne bricht sich an der riesigen Fensterfront des Rhein/Sieg Forums. Der Raum ist komplett gefüllt. Student:innen, Rentner:innen, Menschen im mittleren Alter, von jung bis alt sind alle dabei. Politisch Interessierte aus Bonn und Siegburg haben sich versammelt, um dem Mann zuzuhören, der als Abgeordneter die längste Zeit im Deutschen Bundestag verbracht hat.

Als Gregor Gysi die Bühne betritt schwillt der Applaus an, aber auch ein Raunen geht durch die Menge. „Er ist ja wirklich sehr klein“ flüstert eine Frau ihrer Sitznachbarin zu. Und es stimmt. Mit seiner Größe imponiert Gysi wirklich nicht. Und dennoch reicht seine Ausstrahlung bis in die letzte Reihe. Gysi sitzt mittlerweile seit über dreißig Jahren im Parlament der Bundesrepublik. Am Anfang seiner Karriere füllt er noch keine Räume. Erzählt in einem Interview gegenüber dem ZDF sogar, dass er in seinem ersten Jahr, 1990 nicht respektiert, teilweise gehasst wurde[1]. Den Respekt, den habe er sich über Jahrzehnte hinweg erarbeitet. Gregor Gysi wirkt wie ein Mann mit endlosem Geduldsfaden, der in gemächlichen, aber stetigen Tempo unterwegs ist. Dieses Muster lässt sich auch in seiner Biografie erkennen. Vom Facharbeiter für Rinderzucht zum Rechtsanwalt. Vom Vorsitzenden der PDS-Fraktion in der DDR zu einer der geschätzten drei Silberlocken der Partei DIE LINKE. Es gibt wohl keine Krise der jüngeren deutschen Geschichte, die er als Politik-Uhrgestein nicht miterlebt hat. Vielleicht ist es gerade diese Erfahrung, die dazu geführt hat, dass die Veranstaltung am Samstagabend ausgebucht ist.

Gysi spricht nicht am Tag der Befreiung selbst. Dieser fiel dieses Jahr nämlich auf einen Donnerstag und außer in Berlin wurde in allen Bundesländern ganz normal gearbeitet. Schon zu Anfang seiner Rede kritisiert Gysi diesen Umstand. Der Tag sei „das wichtigste Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte“ und sozusagen die Prämisse für das Deutschland, wie wir es heute kennen. Man könnte sagen, ohne eine „Stunde Null“ hätte die Zeitrechnung in Deutschland nie wieder einsetzen können. Dennoch betont der Alterspräsident, wie lange es gedauert hat, ein positives Verhältnis zum 8. Mai aufzubauen. Und tatsächlich wurde der Tag in der BRD 40 Jahre lang totgeschwiegen, während so gut wie alle unsere Nachbarländer das Ende des Krieges ausgiebig feierten. Erst der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sprach 1985 aus, was der 8. Mai auch für Deutschland gewesen war: Ein Tag der Befreiung, von Krieg, Faschismus und pathologischem Führerkult.

„Deshalb ist es der perfekte Tag, um einen Blick in die Vergangenheit zu werfen, die Entwicklung der demokratischen Prinzipien in Deutschland zu würdigen und sich mit den Herausforderungen der Gegenwart zu beschäftigen“, so Gysi. Und besonders diesen Herausforderungen widmet er sich in seiner Rede.

Der Berliner gibt in gut einer Stunde einen Abriss der größten Krisen und Probleme unserer heutigen Zeit. Und davon gibt es so einige, sowohl in Deutschland als auch global. Geschichtliche Aufarbeitung und Bildung erlebt in der Bundesrepublik einen neuen Tiefstand. Laut der neusten MEMO-Studie können 85% der Deutschen kein Projekt zur NS-Aufarbeitung nennen[2]. Die Leipziger Autoritarismus Studie berichtet, dass rund ein Fünftel der Bevölkerung den Nationalsozialismus auf die ein oder andere Weise verharmlosen[3]. Deutschlandweit sind 17,6 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht[4]. „Statt Investitionen in Wirtschaft und Bildung erleben wir global nur eine riesige Aufrüstung“, erklärt Gysi. Strukturelle Probleme würden nicht angegangen, stattdessen werde nach einfachen Lösungen gesucht. Einfache Lösungen, die besonders am rechten Rand geboten werden.

Wie kann man die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen?

Diese Frage dient Gysi im Laufe des Abends als Anker, zu dem er immer wieder zurückkehrt. Einfache Antworten hat er allerdings nicht parat. „Wir müssen wieder lernen, Realitäten zu wählen“, fordert der Abgeordnete der Linkspartei und spricht damit die gesamte deutsche Bevölkerung an. Er zieht aber auch den neuen Bundeskanzler Friedrich Merz in die Verantwortung. Falsche Versprechungen und Lügen würden das Vertrauen der Bevölkerung in die etablierten Parteien nicht wiederherstellen. Im Gegenteil, sie seien eine „Gefahr für die demokratische Grundordnung“. Damit spielt er auf Merz Wahl-Versprechen, die Schuldenbremse unter keinen Umständen zu lockern an, das prompt mit der Ankündigung eines Sondervermögens gebrochen wurde. Diese Art von Politik schüre Widersprüche, jenen gesellschaftlichen Sprengstoff, der irgendwann unweigerlich zur Explosion führe.

Auch der globalen Lage, besonders den Kriegen in der Ukraine und in Palästina, widmet sich Gregor Gysi. Doch die Art und Weise wie er das tut, ist überraschend gelassen. Ohne polarisierende Worte, ohne Pathos und ohne seine Stimme zu erheben geht er auf die Themen ein, die die Gesellschaft spalten. Insbesondere betont er, dass Fluchtursachen zu bekämpfen der humanste und effektivste Weg sei, Migration zu minimieren und scheut sich nicht auszusprechen, in welchen Sektoren Deutschland auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Nach dem ein oder anderen Punkt schiebt er sein Kinn leicht nach vorne und hebt die Hände, so als wollte er das Publikum herausfordern, ihm zu widersprechen. Doch dieser Widerspruch kommt nicht, stattdessen erntet Gysi immer wieder Applaus.

An einer Stelle wird besonders laut geklatscht. Nämlich als sich der Politiker zum Krieg in Nah-Ost positioniert und die strenge Umsetzung des Völkerrechts fordert: „Wir müssen das souveräne Israel schützen und das souveräne Palästina fordern. Wir als Deutsche müssen beides. (…) Die Palästinenserinnen und Palästinenser bezahlen auch unsere Schuld, deshalb haben wir ihnen gegenüber eine besonderen Verantwortung“. Gysi spricht aus, was in dieser Zeit niemand mehr zu fordern wagt: Eine Zwei-Staaten-Lösung.

Nun klingt das alles nach hartem Tobak. Rechtsruck, Hass und Krieg sind der thematische Fokus des Abends und dennoch geht niemand trübselig nach Hause. Denn der Berliner Politiker weiß, wie man Stimmung auflockert. Wie man auch Kritik mit solch einer Leichtigkeit vorträgt, dass sie nicht wie ein Angriff wirkt. Egal, ob er darüber witzelt, Entwicklungshilfe in Uganda zu beantragen, weil die Internetverbindung dort stabiler ist als bei uns oder anmerkt, dass wir Deutschen zu unfähig sind, unseren Spargel selbst zu stechen, niemand nimmt es ihm Krumm, niemand fühlt sich angegriffen. Zum Ende seiner Rede erzählt der 77-jährige von den E-Mails, die er als Abgeordneter bekommt. Seine Lieblingsmail kam von der Mutter eines 14-jährigen Jungen aus Koblenz. Dieser war vor der Bundestagswahl bei einer Wahlveranstaltung von Gysi gewesen und hatte dort ein Argument aufgeschnappt, mit dem er seine beiden Eltern zum Kreuz bei der Linkspartei überzeugt hatte. Beim Erzählen rutscht der Politiker mit seiner Stimme eine Oktave nach oben, um die des Jungen zu imitieren: „Wenn es die Linke nicht im Bundestag gibt, dann gibt es dort auch keine linken Argumente. Und wenn es im Parlament keine linken Argumente gibt, gibt es sie auch nicht in den Medien und somit auch nicht in der Gesellschaft. Und das führt dazu, dass es nur noch eine Konversation von der Mitte nach rechts gibt. Und das ist gefährlich“

Linke Argumente hörbar machen, das scheint sich Gregor Gysi zum Ziel seiner langen politischen Laufbahn gemacht zu haben. Das Erfrischende dabei ist, dass er nicht so spricht, als wollte er die Meinungen aller Anwesenden unbedingt ändern. Viel eher wirkt es so, als würde er seine Argumente zur Betrachtung in den Raum stellen. Einfach nur, damit sie da sind. Und es scheint zu funktionieren, denn auch wenn einige Menschen mir nach der Veranstaltung anvertrauen, seine politischen Überzeugungen nicht zu teilen, haben sie ihm doch etwas über eine Stunde Gehör geschenkt. Eine Einstellung, von der wir uns vielleicht gesamtgesellschaftlich noch etwas abschauen können.


[1] Bundestag: Warum Gysi als Alterspräsident umstritten ist – ZDFheute.

[2] Gedenkanstoß MEMO-Studie 2025, S. 13, Gedenkanstoß MEMO-Studie.

[3] Vereint in Ressentiment, Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen 2024, Leipziger Autoritarismus-Studie 2024 | Heinrich-Böll-Stiftung.

[4] Statistisches Bundesamt 2024, Weiterhin gut ein Fünftel der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – Statistisches Bundesamt.