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So war Rock am Ring 2022

Lesezeit: 6 Minuten

Nach zwei Jahren Zwangspause sind die Festivals in Deutschland zurück – allen voran Rock am Ring. Marlene Peine war vor Ort, hat Eindrücke gesammelt und erzählt von unverhofftem Wiedersehen, unverwechselbarem Ambiente und ungleichen Bandtypen.

Es wurde auch wieder Zeit

Endlich wieder wie die Sardinen ins Auto gequetscht zum Nürburgring fahren, endlich wieder unter Strapazen das Gepäck vom Auto zum Campingplatz schleppen, um dann endlich wieder eine halbe Stunde für den Zeltaufbau zu brauchen, weil unerklärlicherweise ein Hering fehlt. Rock am Ring ist zurück, und ich hatte es vermisst, ganz ehrlich. Bässe, die die Knochen vibrieren lassen, verschlammte Klamotten und – MC Fitti? Was macht denn MC Fitti hier? Längst hatte ich gedacht, dieses Relikt aus Zeiten, in denen man “Hashtag” und “YOLO” sagte und sich kleine Schnurrbärte auf den Zeigefinger malte, nur noch in alten Wisst-Ihr-Noch-Posts zu sehen. Und doch steht der gute Mann jetzt mit gewohntem Schnurrbart, Brille und Cap-Look bei der Auftaktparty auf der Bühne und läutet Rock Am Ring 2022 mit einer Polonaise zu “Roflkopter” ein.

Und ab geht die Post

Der Schreck vom letzten Abend ist dann schnell verdaut: Die DONOTS eröffnen das Festival am Freitag um halb zwei – normalerweise eine Zeit, zu der sich die Ringrocker:innen ungern vom Zeltplatz locken lassen. Nur diesmal eben nicht: Die Menschenmenge vor der Hauptbühne ist so riesig, dass auch am Horizont des Geländes kein Ende in Sicht ist. Das mag am allgemeinen Festival-Entzug liegen, aber es ist nicht der einzige Grund: Die DONOTS beweisen nämlich, dass sie genau die richtige Band sind, um die Festival-Saison mit Karacho einzuleiten; hier wird von der ersten Sekunde an die Power voll aufgedreht. Sänger Ingo Knollmann macht so viele Luftsprünge auf der Bühne, dass professionellen Turner:innen schon die Puste ausgegangen wäre. Und alles, was sich zwei festivalfreie Jahre lang angestaut hat, entlädt sich mit einem Mal. “Was wäre ein Rock am Ring ohne die Toten Hosen?” fragt Ingo. Und plötzlich stürmen Campino und Gefährten die Bühne und setzen noch einen drauf, indem sie zusammen mit den DONOTS “Schrei nach Liebe” von den Ärzten covern. Wie es dazu kam? “Das war so eine Schnapsidee, die Ingo Anfang des Jahres hatte”, meint Bassist Jan-Dirk Poggemann im Interview. Der Sänger schrieb Campino einfach eine WhatsApp Nachricht – und der fing sofort Feuer.

Feuer gefangen hatten auch die Festivalgänger:innen von Anfang an. Das erste Lied ist noch nicht einmal vorbei, da hat man schon alles veranstaltet, was Menschen bei einem Rock Festival so typischerweise einfällt: Nach den klassischen Moshpits bildeten sich Circlepits, Trockenruder-Runden und die ersten Crowdsurfer glitten auch schon mehr oder minder geschmeidig über die Wellen aus tausenden von Händen. Abgesehen vom Abgehen will die Menge aber vor allem eins: Ausziehen! Ausziehen! So zumindest die Aufforderung an so ziemlich jeden Frontsänger, der auf der Bühne für ein bisschen Stimmung sorgt. Natürlich soll auch Måneskin-Frontmann Damiano David die Hüllen fallen lassen, der meint aber nur gelassen: “Keinen blassen Schimmer, was ihr mir gerade zuruft”. Royal Republics Adam Grahn gibt den Fans die Wahl: “Entweder, wir spielen noch einen Song, oder unser Schlagzeuger zieht sich aus.” Das Publikum ist sich einig: “Ausziehen! Ausziehen!”

Endlich wieder Rock Festival

“HELGAA!” schallt es in die Menge hinein, und so schallt es auch wieder heraus. Kaum ist man zurück mittendrin, erinnert man sich wieder daran, wie das so ist, ein Rock Festival. Komisch ist es, jetzt auf den oberen Rängen zu stehen, und das Publikum im Chor “Scheiß Tribüne!” schreien zu hören. Sonst stand ich selbst mit unten und habe mitgerufen.

Am meisten schätze ich an Rockfestivals aber nicht (nur) das absolute Chaos, sondern wie sehr bei all dem Durcheinander trotzdem das Miteinander zählt. Nach dem Trockenrudern hilft jede*r Aufstehende dem Hintermann wieder auf die Beine; sobald jemand im Moshpit stürzt, sind helfende Hände zur Stelle; und muss man sich mal den Schuh binden, stellen sich gleich drei Leute schützend davor. Bei einem Konzert ist eine Frau bewusstlos geworden – sie wurde sofort auf unzähligen Händen sehr behutsam, aber schnell, direkt zur Bühne und in die Arme der Ordner transportiert. Sind alle in Sicherheit gebracht? Gut, dann kann es weitergehen.

Du liebst uns, du liebst uns nicht

Besonders ein Typ Band fühlt sich bei Rock am Ring wieder pudelwohl: die Entertainer, die mit dem Publikum per Du sind und sich auf der Bühne zuhause fühlen. Royal Republic-Frontmann Adam Grahn mit seiner ansteckend guten Laune plaudert von der Bühne, und als die “Royal Republic!” Sprechchöre wieder losgehen (die gern gebracht werden, wenn die Fans laut werden wollen, aber nicht genau wissen, wie), improvisiert er einfach einen kleinen Country-Song dazu. Die Beatsteaks sehen in ihren Pastell-Pullis und Beanies zwar mehr nach Prenzlberg-Papas aus als nach Rockband, aber sind so überschwänglich in ihrer Wiedersehensfreude, dass man ihnen auch den ein oder anderen Texthänger nachsieht. Sie waren die Band der Herzen, und zwar nicht nur des Publikums: “Wer sich die Beatsteaks nicht anguckt, ist einfach hohl”, meint Jan-Dirk. Auch die australische Band Gang of Youths gehen mit dem Publikum auf Kuschelkurs. Sänger David Le’aupepe steht auf der Hauptbühne nur einem halbleeren ersten Wellenbrecher gegenüber, setzt sich dann aber einfach lässig auf den Bühnenrand und gewinnt mit seiner nahbaren Art die Herzen der Zuschauenden; der letzte Song wird noch gesungen, lange nachdem er von der Bühne verschwunden ist.

Ordentlich gerockt haben sie und viel getanzt haben die Fans auch – aber so richtig warm wurden Shinedown und Placebo mit dem Publikum nicht. Sie blieben eher die publikumsscheuen Bands. Von Shinedowns Brent Smith kam auch mal das obligatorische “Are you having a good time?”, aber häufig kehrte die Band zwischen zwei Songs den Zuschauenden auch einfach den Rücken, um im hinteren Teil der Bühne zu verschnaufen. Nur zum Vergleich: Als Adam Grahns Gitarrenriemen riss und die Show zu pausieren drohte, schnappte er sich einen Stick von Schlagzeuger Per und fing an, zusammen mit ihm an den Drums zu improvisieren. Placebo blieb zwar auf der Bühne, und man hätte sie auch gerne mit großem Applaus gebührend verabschiedet – dazu ließ es Brian Molko aber gar nicht erst kommen. Er verschwand während seiner Performance geräuschlos von der Bühne, und erst nach ein paar Minuten gespannten Wartens auf den nächsten Song wurde den verwirrten Zuschauenden klar, dass das wohl das Ende seines Auftritts gewesen sein musste.

Mitunter mit am meisten Spannung erwartet wurde der Auftritt von Måneskin. Nicht nur Frontmann Damiano David begeisterte mit seinem androgyn-lässigen Sex Appeal, die charismatische und vor Energie sprühende Bassistin Victoria De Angelis stahl ihm das ein ums andere Mal die Show. Trotzdem: Die Band wirkte unverkennbar abgekämpft. Verständlich, wenn man von einer Show zur nächsten tourt, weil der Hype auch nach über einem Jahr nicht weniger geworden ist. Royal Republics Per Andreasson meinte dazu im bonnFM-Interview: “Die haben ein Management, das gerade meint: Leute, ihr müsst jetzt alles rausholen, solange das Feuer brennt! Und das hört nie auf.”

Und die Headliner?

Die gab es ja auch noch: Drei Tage, drei fett gedruckte Band-Namen, die die Line-Up Listen anführen; allen voran Green Day am ersten Abend. Ein überraschend frisch aussehender Billie Joe Armstrong war mit Leib und Seele dabei und sang wie von einer ihrer gerade erst gebrannten CD aus den 2000ern. Drummer Tré Cool wirkte dafür zwischenzeitlich so, als würde er gleich vor Erschöpfung umkippen. Ein weiblicher Fan in ihren 40ern begleitete eines der Lieder auf dem Bass. Eine willkommene Abwechslung, mal eine Frau, die etwas älter als das Durchschnittspublikum ist, auf der Bühne zu sehen. Beim letzten Song wurde Billie Joe emotional und drückte seine Freude darüber aus, dass auch die neue Generation die Liebe zum Rock aufrecht erhält. Ein Moment, der mit den Zuschauer:innen räsonierte – das Bild von dem Mädchen hinter mir, dem die Tränen über die Wangen liefen, hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt.

Kein offizieller, aber irgendwie doch ein heimlicher Headliner war Abschlussact Billy Talent. Die Wahl von Rock am Ring, die Band auf der zweitgrößten Bühne spielen zu lassen, könnte man erstmal als logistisch ungünstig bezeichnen. Das wäre aber untertrieben: Der Bereich vor der Bühne mit offenen Wellenbrechern war zum Bersten voll. Angesichts der aneinander gedrückten Fans in den ersten Reihen bat Sänger Benjamin Kowalewicz zweimal während des Konzerts alle darum, zur Lockerung der Lage einen Schritt zurückzutreten. Der Aufforderung wurde ohne Probleme nachgekommen, und ein sicheres Konzert konnte so auch unter erschwerten Bedingungen gelingen. “Passt aufeinander auf”, war die Message des Frontsängers, der ein einfaches schwarzes Shirt mit einem weißen Herzen trug. Ob sie nun wirklich auf eine Zugabe hofften, oder einfach nicht wahrhaben wollten, dass das Festival schon wieder vorbei war: Die Zuschauenden wollten die Stage nicht verlassen; auch dann nicht, als Billy Talent schon lange wieder verschwunden waren.

Good Riddance

Rock am Ring hat noch einige Baustellen: die längst überfällige Anhebung der Frauenquote auf den Bühnen, der alle Jahr wieder produzierte Müll und die horrenden Preise, nicht zuletzt für Bus Shuttles zum und auf dem Gelände. Aber immerhin können wir jetzt sagen: Wir wollen Verbesserungen sehen, und zwar nicht erst bis in drei Jahren, sondern schon im nächsten Jahr. Und in dem danach. Denn die Festivals sind endlich wieder zurück.