Hitzewelle wie vergessen: Im Rex Theater in Endenich ist am Mittwoch kein Platz mehr frei: Die Premiere des Dokumentarfilms „Kein Land für Niemand – Abschottung eines Einwanderungslandes“ erreicht die Herzen der Bonner*innen. Und als wäre das nicht genug, sorgt der Dialog mit den Regisseuren und Sea-Watch für Gänsehaut bis in den Abspann.
Auf dem Weg zum Kino sieht man die Schlange schon eine Straße vorher. Dabei ist es mit 35 Grad der wärmste Tag der Woche, und das nach zwei vorausgegangenen Tagen Hitze. Es ist klar: Was auch immer hier heute Abend gezeigt wird, will gesehen werden. Rund 150 Zuschauer*innen sitzen in dem kleinen Saal des Rex Theaters. Bei dem Erfolg scheint es wie ein Scherz, als die Regisseure Max Ahrens und Mais Lüdemann vor Ort erzählen, wie viele Absagen sie für den Film bekommen haben. Bei der Premiere sind nicht nur die Hamburger Regisseure vor Ort, sondern auch ein Vertreter der German Doctors, ein Stand der Sea-Watch Bonn, der Vorstand der Sea-Watch e.V. und Vertreter des Mennonitischen Hilfswerks e.V.
Der erste Langfilm
Für die jungen Filmemacher ist Kein Land für Niemand der erste Langfilm, der 3,5 Jahre lang gedreht wurde. Eigentlich sei er schon fertig gewesen, doch der Brandmauer-Bruch diesen Jahres musste noch unbedingt mit rein. “Wir haben das ganze Team noch einmal auf die Beine stellen müssen”, erinnert sich Max Ahrens. Das Projekt hat viele helfende Hände: Aktivist*innen von Sea‑Eye, Sea‑Watch, United4Rescue, Pro Asyl und German Doctors waren maßgeblich an Entstehung und Förderung beteiligt. Zur Idee zum Film haben sich die beiden gefragt, “was noch in der medialen Debatte der Migrationsfrage fehlt”. Das Thema Asyl solle von außen nach innen gezeigt werden. „Wir wollten die Außengrenzen nach Deutschland holen“, erklärt Maik Lüdemann, bevor es losgeht. Der Film soll ein Panorama zeichnen: Von den Außengrenzen bis ins Herz der deutschen Politik.
Gute Projektion…
… wünschen uns Max und Maik anstelle von Spaß, denn schiere Unterhaltsamkeit ist nicht die Botschaft von diesem Film. Er soll aufklären, mobilisieren, empören. Kurz bevor die Lichter dimmen, rutscht Max beim Abgang dann doch ein “Viel Spaß!” heraus, vielleicht aus Nervosität.
Neben erschütternden Szenen sind auch Interviews mit deutschen Politiker*innen und Personen des öffentlichen Lebens zu sehen, die sich für Asyl und Geflüchtete in Deutschland einsetzen. Oder es bewusst nicht tun. Prof. Aladin El‑Mafaalani, Marcel Fratzscher, Monika Schnitzer und Natascha Strobl sind einige von vielen interviewten Personen. Der Film zeigt nicht nur bewegende Szenen von Rettungseinsätzen, sondern lässt auch Geflüchtete selbst zu Wort kommen. Gleichzeitig analysieren Expert*innen, wie rechte Narrative die politische Debatte verändern. Dabei wird deutlich: Humanitäre Hilfe gerät zunehmend unter Druck, nicht zuletzt wegen dem fremdenfeindlichen Klima in Europa. An der Grenze in Italien werden Flüchtende brutal von den Zäunen gehauen, Boote voller Menschen werden auf internationalen Gewässern von links nach rechts geschubst, Aktivist*innen wird mit einem Angriff gedroht, sollten sie versuchen, Menschen zu helfen. In Deutschland angekommen, lebt ein aus Iran geflüchteter Menschenrechtsaktivist mit seiner Frau und zwei erwachsenen Kindern in einem kleinen Raum. Sie würden gerne in der Medizin arbeiten und Krankenpflege ist in Deutschland gefragt, doch sie dürfen nicht arbeiten. Im nächsten Schnitt hört man die CDU Landrätin Martina Schweinsburg sagen, mehrere Asylbewerber*innen würden das Geld nur “nach Hause” schicken und sollten durch die Bezahlkarte in Schach gehalten werden.
Moralisches Bankrott
Als der Film zu Ende ist, zerbricht die schwere Luft ein Ansturm von Applaus. Sea-Eye, German Doctors und die Regisseure kommen nochmal für eine Fragerunde nach vorne.
Anna di Bari, Vorstandsmitglied von Sea-Eye e. V., schildert eindrücklich die gegenwärtige Situation der Seenotrettung im Mittelmeer. Ihre Erzählungen geben allen noch einmal den Reality Check, dass das gerade eine Dokumentation und kein Horrorfilm war. Wieder einmal entziehe sich der Staat seiner Verantwortung und versuche stattdessen, zivilgesellschaftliches Engagement wie die Sea-Eye zu kriminalisieren. Aktuell liegt das Rettungsschiff der Organisation in Italien fest, weil nach einer erfolgreichen Rettung unter anderem mangelnde Versorgung mit Trinkwasser und die Anwesenheit einer schwangeren Frau als Vorwand für strafrechtliche Vorwürfe genutzt wurden. Es handle sich um gezielte Versuche, Einsätze zu blockieren und die Organisation handlungsunfähig zu machen.

Zeit für “Antifaschistische Wirtschaftspolitik”
Durch drastische Kürzungen in Höhe von zwei Millionen Euro fällt auch eine entscheidende finanzielle Unterstützung weg. Die Bundesregierung hat die Förderung eingestellt – ein Schritt, der keine wirksame Maßnahme darstellt, sondern privatwirtschaftliche Unternehmen auf Kosten der Menschenrechte bevorteilt. Die Herausforderung, auf diese Zustände aufmerksam zu machen und gesellschaftliche Sensibilität zu schaffen, sei unter der jetzigen Situation massiv. Bilder von Menschen, die auf der Flucht ertrinken, brennendem Treibstoff auf offener See und fehlender staatlicher Unterstützung sind Ausdruck eines tiefgreifenden Versagens. Dr. Harald Kischlat von German Doctors e. V. berichtet von der Bordärztin Barbara Held, die auf einer Mission nicht nur bei der Rettung eines Babys half, sondern auch einen Sarg verabschieden musste. Diesen Grad zwischen Leben und Tod sieht man auch im Film. Evakuierungsanfragen werden von der italienischen Rettungsleitstelle regelmäßig abgelehnt – wie auf Lampedusa sichtbar. Es sind bewusste Entscheidungen, nicht zu helfen. Für Kischlat ist das ein moralischer Bankrott.
Aus dem Publikum kommt die Frage, wie eine bessere Migrationspolitik aussehen könnte. Max Ahrens betont, dass innenpolitisch zunächst Bedingungen für gesellschaftliche Akzeptanz geschaffen werden müssen. Eine antifaschistische Wirtschaftspolitik sei dafür essentiell. Akzeptanz für soziale Themen nehme spürbar ab, die Zukunftsängste wachsen. Anna di Bari kritisiert den öffentlichen Diskurs über Migration, der oft an Erkenntnissen fehlt. Während man rhetorisch nach rechts zeigt, ist gleichzeitig der Familiennachzug faktisch ausgesetzt. Integration könne nur gelingen, wenn man strukturell ansetze. Schuldzuweisungen verhindern Lösungen. Es brauche nicht nur Solidarität, sondern auch einen funktionierenden Verteilungsmechanismus. Selbst einfache Maßnahmen scheitern an bürokratischen Hürden wie fehlenden Außenstellen des Auswärtigen Amts.
Maik weist darauf hin, dass die Debatte oft zu schlicht geführt wird. Warum äußert sich Jens Spahn zur Migrationsfrage, während Menschen aus der Wissenschaft kaum gehört werden? Es brauche neue Perspektiven und konkrete Ideen. Zentral bleibt: Niemand sollte auf dem Weg nach Europa sterben müssen. Dieses grundlegende Prinzip müsse unbedingt erhalten bleiben.

Vor dem Hintergrund erstarkender rechter Mehrheiten stellt sich die Frage, wie man mit diesem Spannungsfeld umgeht. Max Ahrens warnt davor, dass die Demokratie durch Gleichgültigkeit gefährdet ist. Es sei notwendig, kleinschrittig für bessere Bedingungen zu kämpfen. Anna di Bari betont die Bedeutung des Rechtsstaats. Gerade in Krisenzeiten dürfe man dieses Instrument nicht aus der Hand geben.
Was können Menschen konkret tun? Politisierung ist ein wichtiger Schritt, sagt Maik Lüdemann. Es geht darum, eine Haltung zu entwickeln und Solidarität aktiv zu leben. Ob über antifaschistische Wirtschaftspolitik oder kreative Aktionen wie eine Tauschaktion rund um die Bezahlkarte in Bonn: Es gibt Wege. Die Tools und Erfahrungen von Sea-Eye stehen zur Verfügung. Die Frage bleibt: Wie schaffen wir es, gemeinsam Menschlichkeit zu erhalten?