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Bild: @imcarlaelisa / Instagram

Carla würde lieber sterben, als zu erbrechen

Lesezeit: 9 Minuten

Emetophobie ist die krankhafte Angst vor dem Erbrechen. Seit 2018 bestimmt sie Carlas Leben. Im Interview erzählt sie von Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper, Scham, Aufklärung und dem Traum von Freiheit. Eine Reportage über das Leben in ständiger Angst.

Wenn man vom Verlassen der Komfortzone spricht, geht es oft um einen neuen Job, vielleicht auch um einen Umzug in eine neue Stadt oder eine große Reise. Vielleicht ist ein Fallschirmsprung geplant. Auf jeden Fall sind sich alle einig, dass es sich dabei um eine Herausforderung handelt. Wenn Carla vom Verlassen der Komfortzone spricht, dann erzählt sie vom Essen, vom Rausgehen, vom Freunde treffen. Denn immer dann, muss sie sich ihrer Angst stellen.

Wovor sie Angst hat? Dafür gibt es viele Wörter: kotzen, reiern, erbrechen, speien, sich übergeben. Viele Begriffe für etwas, das ganz selbstverständlich zum Leben dazugehört. Klar ist: niemand übergibt sich gerne. Eklig ist es schon, aber was raus muss, muss raus. Danach ist es besser. Doch für Carla bedeutet sich zu erbrechen oder andere erbrechen zu sehen Panik – bis hin zu Todesangst. Sie lebt mit Emetophobie, einer Angststörung, die laut der Klassifizierung der WHO zu den spezifischen Phobien gezählt wird. Dazu gehören auch Höhenangst oder Angst vor Gewitter. Den Begriff Emetophobie haben allerdings die wenigsten schonmal gehört.

Das ewige Vermeiden

Wenn man mit einer Angststörung lebt, wird die Komfortzone plötzlich sehr klein. Betroffene versuchen alles, um die Konfrontation mit dem Erbrechen zu vermeiden und schränken so ihr Leben stark ein. Ob in der Bahn, beim Reisen, im Klassenraum oder auf der Party. „Es ist immer irgendeine Katastrophe in meinem Kopf”, erzählt Carla.

Die Ausprägung der Angst ist individuell. Oft haben Betroffene Probleme mit dem Essen, Angst vor Menschenmassen, Zwangsgedanken, einen Hang zur Hypochondrie und Hygienezwänge durch Angst vor Ansteckung. Auch der Kinderwunsch kann beeinflusst werden, weil zum Beispiel Schwangerschaftsübelkeit befürchtet wird. Carla beschreibt die Angst als „Schatten, der mich immer verfolgt. Wie jemand, der ungefragt immer da ist.”

Für sie ist das Essen die größte Herausforderung. Die 21-Jährige aus Mönchengladbach isst manchmal einfach nichts, um so das Erbrechen zu vermeiden: „Mir persönlich gibt es so ein Sicherheitsgefühl, wenn ich nichts im Magen habe.“ Im Sommer letzten Jahres war sie deshalb auf Trinknahrung angewiesen. Aber es geht wieder bergauf: „Ich fange jetzt mal mit dem Essen an. […] Es klappt langsam wieder ein bisschen besser”, erzählt sie.

Gefangen im eigenen Körper

Was die Emetophobie so besonders macht, ist, dass Betroffene nicht von ihr weglaufen können. Das Erbrechen – eine nützliche Schutzfunktion des Körpers – lässt sich nie vermeiden, wie Höhe oder enge Räume. Und schon ist da die Angst vor dem eigenen Körper und ein dauerhafter Stress, ohne Pause. Carla erklärt das so: „Das ist auch das, was ich so schrecklich an der Emetophobie finde. […] Wir sind ja dann eigentlich wie gefangen in unserem Körper. Und ich finde das hat dann auch viel damit zu tun, dass wir uns selbst nicht vertrauen und das nicht akzeptieren wollen, dass wir über manche Dinge keine Kontrolle haben.“

Meditation, Atemübungen – für manche sind diese Entspannungstechniken ein Wundermittel. Carla kann nicht allein mit ihrem Körper sein: „Ich muss mich dauerhaft von meinem eigenen Körper ablenken”. Jedes Magengrummeln – jede völlig normale Körperreaktion – ist eine potenzielle Gefahr. Denn wer kann versichern, dass man nicht doch etwas Falsches gegessen hat? Oder, dass es nicht doch ein Virus ist?

Der Teufelskreis aus Kopf und Körper

Weil Betroffene ihrem eigenen Körper misstrauen, beobachten sie ihn pausenlos, wie einen fremdartigen Käfer im Lupenglas. Dieser dauerhafte Stress wirkt sich auf den Körper aus – es kommt zu psychosomatischen Beschwerden.

Carla kennt das gut. Seitdem sie mit der Angststörung lebt, hat sie dauernd Magen- und Darmbeschwerden. Dazu kommen ausgerechnet Übelkeit und Kreislaufprobleme. Das Herz stolpert und das Auge zuckt. Die Hände sind kalt, die Füße auch. Carla schafft es nicht, all ihre Gefühle richtig in Worte zu fassen. Manchmal fühlt sie sich, „als würde ich die Welt irgendwie anders wahrnehmen. [..] Als wäre das wie so ein Traum.” Wenn diese Symptome sich bemerkbar machen, der Körper sich anders verhält als gewünscht, dann gehen die Alarmglocken an. Die Angst wird stärker. Und so schaukeln sich Angst und Körpersymptome in einem Teufelskreis hoch. „Es ist halt die Angst, die diese ganzen körperlichen Symptome auslöst und dann steigert man sich noch mehr da rein”, erklärt Carla.

Das kann sich bis in eine Panikattacke steigern. Die hat Carla nicht, aber sie spricht von „Angstattacken“. In diesen Momenten, wenn die Angst sie überrennt, beginnt sie zu zittern, zu schwitzen. Das Herz rast und der Mund ist trocken. „Es kann tatsächlich so schlimm sein, dass ich anfange zu weinen und auch wirklich anfange zu schreien, weil ich so eine Angst spüre.” Das Schreien ist in solchen Momenten ein Ventil, eine Möglichkeit, sich von den überwältigenden körperlichen Symptomen abzulenken. Dann ist sie besonders unruhig, läuft hin und her. Alles, was ihr dann hilft, ist, dass jemand ihre Hand hält und ihr versichert: „Es hört gleich auf.” Und es geht immer vorbei, aber die Angst bleibt.

„Wir müssen akzeptieren, dass wir keine Kontrolle haben und das ist halt unfassbar hart.”

Im Alltag helfen ihr Hausmittel, wie japanisches Heilpflanzenöl gegen Übelkeit, Baldrian oder Zitronensaft, der Magen-Darm vorbeugen soll. „Das gibt mir sehr viel Sicherheit“, sagt sie. Aber auch medizinische Beruhigungsmittel gehören zu ihrem Repertoire.

Zwischen Rationalität und Todesangst

Richtig erklären, warum gerade die Angst vor dem Erbrechen so stark ist, kann Carla nicht. Wenn sie mit ihr reden könnte, dann würde sie der Angst sagen, „dass die mich in Ruhe lassen soll, weil es keinen Grund gibt, sie zu haben.” Ihr ist bewusst, dass das Erbrechen eigentlich nicht gefährlich, ja nützlich ist: „Die Angst macht es ja überhaupt so schlimm.” Aber was sie rational weiß und was sie fühlt – dazwischen liegen Welten. Man spricht von der Angst vor der Angst. An manchen, guten Tagen denkt Carla: „Es wird schon alles irgendwie und wenn es passiert, dann passierts.” Aber an den meisten Tagen ist es anders. Dann überwiegt die Angst.

„Wenn ich mich dann da so reinsteigere, dann denke ich mir auch wirklich: Ich würde lieber sterben, als dass das passiert. Es ist wirklich so schlimm, dass man lieber sterben möchte, als das zu durchleben.”

In der Vergangenheit hatte Carla auch schon mit depressiven Episoden zu kämpfen. Es waren Phasen, in denen sie hoffnungslos war. Wie soll sie jemals diese Angst überwinden? Wie soll diese Verankerung im Gehirn gelöst werden? Manchmal drängt sich diese Frage noch immer auf. „Man fühlt sich so unfassbar machtlos“, sagt sie. Solche Tage, in denen sie keinen Ausweg sieht, gibt es aber zum Glück nur noch selten. An den meisten Tage akzeptiert sie ihre Situation. Es ist auch Gewöhnung, sagt sie. Denn Carla hat in den letzten Jahren oft die Erfahrung gemacht, dass nichts Schlimmes passiert. Die Zeit hilft bei der Wundheilung. Und Ablenkung, „damit ich nicht so sehr auf meinen Körper achte und mir wieder irgendwelche Sachen einrede.”

Verdrängung bis zum Zusammenbruch

Ursachen von Emetophobie sind noch wenig erforscht. Bei Carla liegen sie, wie vermutlich meistens, in der Kindheit. Denn sie hatte als Kind schon viel mit Ängsten zu kämpfen. Da waren die Höhenangst und die Angst im Auto. Mit 10 Jahren musste sie sich dann wegen eines Infektes übergeben. Dieses Erlebnis hat „das Fass zum Überlaufen gebracht”, erzählt Carla. Plötzlich war da die Angst, dass das nochmal passiert. Als Reaktion darauf hat sie nicht mehr gegessen und abgenommen. Nach Arztbesuchen war klar: das ist psychisch. Obwohl es im Gespräch war, wollte Carla zu diesem Zeitpunkt aber keine Therapie anfangen. „Ich habe dann tatsächlich, irgendwann mit der Zeit, die Angst selber in den Griff bekommen”, sagt sie. Aber dabei sollte es nicht bleiben.

Im Jahr 2018, kurz vor Weihnachten, kam es dann zum Zusammenbruch. „Ich bin einfach wirklich zusammengeklappt“, sagt sie. „Danach ging gar nichts mehr.“ Es gab Stress in der Schule, Stress in der Beziehung, unverarbeitete Erfahrungen und Gefühle. Die Angst, die sie immer einfach hingenommen hat. Ein schleichender Prozess. „Ich habe das alles wie in eine Schublade gepackt […] und die dann zugemacht”, erklärt Carla. „Bis die Schublade dann nicht mehr zuging.”

Vier Jahre Fort- und Rückschritte

Carla hat direkt im Anschluss eine Verhaltenstherapie begonnen. Obwohl es ihr Ziel war, ist sie seitdem nicht mehr in die Schule gegangen. Ihr Abitur hat sie nicht mehr gemacht. Aber in den Jahren danach hat sie große Fortschritte erlebt, konnte eine Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie abschließen.

„Die letzten vier Jahre waren ein Auf und Ab. […] Aber ich habe halt immer weiter gemacht. Ich bin immer wieder da rausgeklettert.”

Aktuell, seit letztem Sommer, kämpft sie sich aus einem weiteren Tief heraus. Gerade kann sie nicht arbeiten, nicht allein rausgehen. Auch öffentliche Verkehrsmittel meidet sie. Kino, Partys, Alkohol – all das gehört nicht zu ihrer Jugend. „Ich lebe so vor mich hin, keine Ahnung”, sagt sie so, dass man ein Lächeln durch ihre Stimme hört.

Fünf Wochen Klinik

Im Sommer 2019 war sie in einer Klinik. Sie wollte stationär behandelt werden, weil sie zu dem Zeitpunkt noch ein Ziel hatte: wieder in die Schule gehen. Aber die fünf Wochen Klinikaufenthalt war eine schlechte Erfahrung für sie. Da war der Druck, zu essen und nicht abzunehmen. Sonst müsste sie gehen. „Ich habe halt die Klinik schon in dem Moment so als letzte Option für mich gesehen, um irgendwie noch Hilfe zu bekommen“, sagt sie.

Aber auch mit der Psychologin hat sie sich nicht gut verstanden. Denn die hat Carla gesagt, dass sie sich wünsche, dass Carla sich mal übergeben muss. Um zu sehen, dass es nicht schlimm ist. Das hat ihr in ihrer Situation große Angst gemacht, denn das Übergeben als letzter Ausweg ist für sie keine Option. „Dann sterbe ich jetzt lieber“, erinnert Carla sich, gedacht zu haben. In der Klinik kamen dann die Suizidgedanken und die heftigste Angstattacke ihres Lebens. Als sie vom Hergang dieser Angstattacke erzählt, betont Carla immer wieder, wie schlimm es für sie war, wie allein sie sich gefühlt hat. „Daran erinnere ich mich auch nicht gerne“, sagt sie. Als Folge fiel ihr das Essen schwerer, der Druck wurde größer. Irgendwann war für sie klar: „Ich möchte nicht so therapiert werden, also so heftig konfrontiert werden, so unter Druck gesetzt werden.“

Auch der Kontakt mit anderen psychisch kranken Menschen hatte nicht nur positive Seiten. „Wir haben uns unfassbar viel voneinander abgeschaut.“ Carla hat Erzählungen von Suizidversuchen, Selbstverletzungen und Panikattacken von Anderen mitbekommen. „Unterbewusst hat das auch sehr viel mit mir gemacht.” Irgendwann hat sie nur noch geweint. Carlas Eltern waren überfordert, es gab viel Streit. Schließlich, nach fünf Wochen, hat sie abgebrochen. Diese Zeit hat einen neuen Rückfall ausgelöst.

Vom Bergsteigen

Aber Carla gibt nicht auf. Nie. „Ich würde wirklich alles dafür tun, um normal leben zu können“, sagt sie. Und sie sagt es voller Überzeugung, denn sie weiß, wofür: „Meine Träume motivieren mich.“ Carla möchte mit psychisch kranken Menschen arbeiten, vielleicht als Ergotherapeutin. Auf jeden Fall helfen. Und sie möchte mal heiraten, eine Familie gründen, nach Mexico reisen.

„Ich verdiene ein schönes Leben und das kann nicht sein, dass ich das jetzt beende, ohne all das erlebt zu haben. […] Deswegen muss ich einfach weitermachen.”

Obwohl die Angst ihr die Leichtigkeit zu nehmen versucht – und es oft auch schafft – sieht Carla auch einen Gewinn. Etwas essen, verreisen, rausgehen – „nichts mehr ist für mich selbstverständlich.“ Das ist eine Lehre, vermeintliche Kleinigkeiten zu schätzen. Egal was sie macht, sie wird sich immer daran erinnern, dass es irgendwann mal nicht ging. Carla hat viel gelernt, ist gereift, hat neue Perspektiven gewonnen und ist deshalb empathischer, findet sie. Jeder Tag ist Konfrontation, jeder Tag ist Anstrengung. „Ich habe im letzten Jahr sehr hart daran gearbeitet jetzt wieder an dem Punkt zu sein, an dem ich jetzt bin.” Aber das Gefühl, etwas geschafft zu haben, findet Carla besonders schön. „Und ich weiß, das hat nicht jeder.“

Sie blickt hoffnungsvoll auf all die Menschen, die sich schon vor ihr aus einer Angststörung herausgekämpft haben: „Ich glaube fest daran, dass ich das auch schaffe.“ Es ist anstrengend, aber Carla sieht die Ziellinie. Diese Heilung heißt für sie, irgendwann an dem Punkt zu sein, an dem man „die Kontrolle abgibt und seinem Körper vertraut.”

Das ist kein einfacher, gepflasterter Weg, sondern eher wie Bergsteigen. So erklärt Carla es: „Wenn man nur den Berg sieht, dann hat man gar keine Motivation, will gar nicht anfangen. Dann will man am liebsten einfach unten bleiben und alles beenden. Aber wenn man eins nach dem anderen macht, dann ist es viel einfacher, den Berg zu erklimmen.”

Gegen die Tabuisierung

Über die Emetophobie zu sprechen ist schwierig. Zum einen, weil psychische Krankheiten sowieso tabuisiert sind. Außerdem, weil Nicht-Betroffene mit der Angst vor dem Erbrechen meist wenig anfangen können. „Ich habe da kaum drüber gesprochen. Einfach, weil mir das so unangenehm war.” Und weil [sich] das ja schon […] erstmal ein bisschen komisch anhört, wenn man sagt, man hat Angst vor dem Übergeben”, erzählt Carla.

Trotzdem – oder genau deshalb – teilt sie Inhalte zum Thema auf TikTok und Instagram . Die Idee kam ihr durch Videos, in denen Leute gezeigt haben, was sie am Tag essen. Carla hat aber nie Videos von Menschen gesehen, die Probleme mit dem Essen haben. Daraufhin erinnert sie sich gedacht zu haben: „Ey, ich mache das jetzt einfach!” Eine große Überwindung, aber als plötzlich andere geschrieben haben, dass sie mit den gleichen Problemen kämpfen, war Carla „geflasht”. Mittlerweile hat sich eine kleine Community gebildet. „Ich finde das auch schön, Leute zusammenzubringen, die sich damit, genauso wie ich, allein gefühlt haben. Und ich möchte halt gerne diesen Leuten helfen.” Einen Ort schaffen, wo Betroffene sich wohlfühlen, verstanden werden. Manchmal postet sie Informationen, aufbauende Worte und Tipps. Manchmal sind es Memes, in denen sich Betroffene wiederfinden. In ihrem Podcast anxious & awesome – mein Leben mit Emetophobie auf Spotify klärt sie weiter auf, spricht mit Gästen über Beziehungen mit der Angst und Reaktionen der Familie.

Die Inhalte richten sich nicht nur an Betroffene, sondern auch an Außenstehende. Carla wünscht sich eine Sensibilisierung in der Gesellschaft. Ihr Appell deswegen: nett sein, „auch, wenn man vielleicht mit den Problemen nicht viel anfangen kann und die nicht versteht“. Oder im Zweifel einfach nichts sagen, denn Betroffene haben sich die Angst nicht ausgesucht, betont sie.

Es ist der Austausch, der Betroffenen hilft, wenn der eigene Körper zum Feind wird. Der Gedanke, nicht allein zu sein. Auch wenn die Angst einen großen Platz im Leben der Betroffenen einnimmt, wenn dieser Schatten immer dabei ist. Carla weiß: „Ich bin viel mehr als das.“