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Fidelio: Beethoven, Türkei und Menschenrechtsverletzungen

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Die Oper Fidelio bringt zum Weinen: Doch nicht nur wegen des ergreifenden Operngesangs, sondern auch weil es um Tod, Folter und Menschenrechtsverletzungen geht.

Das Erste, das man im Germanistikstudium lernt ist: Der Autor ist tot. „Was wollte uns der Autor damit sagen?“ wird komplett aus dem Vokabular verbannt, denn was auch immer der Autor vor vielen Jahren sagen wollte, ist heute nicht mehr relevant. Jedes Werk wird zu jeder Zeit neu interpretiert und gemäß der gesellschaftlichen Entwicklung angepasst. Ludwig van Beethoven, der Komponist der Oper „Fidelio“ ist vor 193 Jahren gestorben und seine Werke sind noch bis heute weltweit bekannt. Doch so schön die 5. Sinfonie auch ist, mit moderner Musik hat sie nichts zu tun. Um sie wieder aktuell machen, muss man sie verändern und mit neuen Eindrücken verknüpfen. Genau das hat auch Regisseur Volker Lösch mit Fidelio gemacht, und das mehr als erfolgreich. Zwar bleibt die Musik gleich und wird vom Beethovenorchester Bonn fantastisch inszeniert, jedoch überrascht die Kulisse mit einer riesigen Greenscreen-Halle und einem Tisch, an dem viele, scheinbar nicht-kostümierte Menschen sitzen. Doch bevor wir über die Inszenierung sprechen, erstmal etwas Hintergrundwissen über das Stück.

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Worum geht es bei Fidelio?

Da diese Oper schon Hunderte von Jahren alt ist, bietet es sich an, den originalen Inhalt kurz zusammenzufassen: Fidelio ist ein Gefangenendrama. Ein Mann namens Florestan ist gefangen und seine Frau Leonore möchte ihn befreien. Also gibt sie sich als der Mann aus, der dem Stück seinen Namen gibt: Fidelio. Als Fidelio geht sie zu dem Gefängnis, in dem Ihr Mann sitzt und wird als Wärter unter dem Aufseher Rocco eingestellt. Rocco hat eine Tochter, die sich in Fidelio (dessen Kostüm die Weiblichkeit Leonores wirklich gut zu verstecken scheint) verliebt. Sie verloben sich auch und Leonore möchte, als Vertrauensbeweis, die Gefangenen besuchen. Natürlich brauchen wir auch einen Antagonisten. In diesem Fall ist das Pizarro. Der Gouvaneur ist der Grund, aus dem Florestan überhaupt im Gefängnis sitzt. Er hatte ihn damals ohne Verurteilung in den Kerker geworfen. Da bald eine Inspektion des Ministers ansteht, möchte er Florestan im Gefängnis ermorden lassen. Er versucht Rocco dazu zu bringen, doch er weigert sich, lässt jedoch zu, dass Pizarro es selbst tut. Fidelio schreitet ein, gibt sich als Leonore, Florestans Frau, zu erkennen und schafft es, ihn zu retten, da am Ende der Minister eintrifft.

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Einmal Beethoven mit scharf, bitte!

Wer die aufgewärmten Reste eines alten Stücks erwartete, der wurde hier sehr überrascht. Fidelio war schon zu Beethovens Zeiten eine politische Oper, aber auch ich habe nicht erwartet, dass es so politisch wird. Dass Fidelio etwas mit der Türkei zu tun hat, wurde schon in den ersten Paar Minuten klar. Während das Orcherster spielte, wurden auf einem großen Screen Videoaufnahmen gezeigt: Panzer, Kriegsgebiete, Militärparaden, auch unsere Kanzlerin Merkel zusammen mit dem Präsident Erdogan. Dass Erdogan die Menschenrechte nicht ganz so genau nimmt und auch mit Vorliebe (deutsche) Journalisten einsperrt wusste ich zu diesem Zeitpunkt schon, aber das ganze Ausmaß wurde mir erst nach dem Stück bewusst. Das Stück beginnt mit einem langen Zitat aus einem Buch, das in einem türkischen Staatsgefängnis geschrieben wurde. Davon sollten noch einige folgen. An einem Tisch auf der Bühne sitzen verschiedene Personen, einer davon besonders auffällig im lila Anzug. Dies ist Matthias Kelle, der als Moderator dient. Neben ihm sitzen Hakan Akay, Doğan Akhanlı Süleyman Demirtaş, Agît Keser und Dîlan Yazıcıoğlu. Sie alle sind Kurden und haben am eigenen Leib die Gewalt der Türkei gespürt: Entweder waren sie selbst jahrelang in Haft oder ihre Angehörigen sitzen noch immer im Gefängnis und werden dort gefoltert. ​Eine ist deutsche Sängerin mit kurdischen Wurzeln, die bei einem Event der Oppotsitionspartei der HDP auftrat und dann verhaftet wurde. Ein anderer ist Vorsitzender ebendieser demokratischen Partei und wurde nach Entzug der Immunität festgenommen. Ein anderer ist Journalist. Einer ist politischer Aktivisten der PKK und sitzt seitdem er 22 Jahre alt ist, krebskrank im Gefängnis. Allerdings wird die PKK auch in Deutschland als terroristisch eingestuft. Sie alle kommentieren die Szenen der Oper und erklären, was die Türkei der ethnischen Minderheit der Kurden antut. Die Nüchternheit, mit der sie von den Untaten erzählen, ist erschreckend. Eine Frau ruft zwischendurch „Hör auf“, weil sie es nicht mehr ertragen kann. Das Video eines wehrlosen kurdischen Trauermarsches, der von Soldaten angegriffen wird, ist auf der großen Leinwand zu sehen. Blut fließt über die Straßen, echtes Blut. Dies ist kein Film, keine Inszenierung, sondern echte Menschen, die gestorben sind und auf der Bühne stehen diejenigen, die es bezeugen können.

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Reizüberflutung durch Greenscreen

Die Inszenierung von „Fidelio“ ist sehr modern. Die gesamte Kulisse besteht aus einem riesigen Greenscreen, der dafür genutzt wird, live Bilder auf die große Leinwand zu übertragen. So befinden sich die Figuren zum Beispiel plötzlich im Bonner Klamottengeschäft oder vor einer Wand von Familienfotos. Die Oper nutzt diesen Greenscreen auch als Stilmittel, da Gefangene in grünen Ganzkörperanzügen stecken und somit ihre Identität verlieren. Um ihre Befreiung zu symbolisieren, ziehen sie diese aus und sind auf dem Bildschirm nun als richtige Menschen zu sehen. Die Arbeit der Kameramenschen muss besonders hervorgehoben werden, da alles live gefilmt wird. Es ist eine postdramatische Inszenierung, da sich Schauspieler auch auf der Bühne umziehen, die Kulisse umgebaut wird und die Regieassistent*innen zu sehen sind. Leider ist es oft schwer, dem Stück zu folgen, da die Zuschauer*innen auf den Gesang, das Geschehen auf der Bühne und die Bildschirmübertragung gleichzeitig achten müssen. Sobald mehrere Figuren singen und dies auch noch so schwer verständlich ist, dass man mitlesen muss, kann man sich nur noch auf eine Sache konzentrieren. Die Bilder auf der Leinwand scheinen manchmal wie eines dieser komischen Musikvideo aus den Neunzigern, das heute wiedergefunden wurde und viral geht. Nichtsdestotrotz habe ich diese Inszenierung, die auch den Schauspielern Einiges abverlangte, einer traditionellen Inszenierung bei weitem vorgezogen.

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Am Ende kommen die Schauspieler mit Schildern auf die Bühne, die man sonst nur von Demonstrationen, nicht von kulturellen Veranstaltungen kennt. „Freiheit für alle politischen Gefangenen“ steht unter anderem darauf. Vom Publikum gibt es Standing Ovations, aber auch einige Buh-Rufe. Das Stück schockt, polarisiert und politisiert seine​ Zuschauer*innen. Es ist nichts für schwache Nerven und lässt sich mit Hintergrundwissen besser genießen, ist aber auch ohne wahnsinnig berührend.