13 Jahre Schule, Unmengen an Wissen und trotzdem keinen Plan, wer du bist oder was du willst? Viele Abiturient:innen fühlen sich nach Ende der Schulzeit orientierungslos und suchen beim Reisen oder in Praktika nach sich selbst. Auch ich war im Sommer 2024 in dieser Position – bis ein Gedanke meine Sicht auf Lebensplanung und soziale Beziehungen auf den Kopf gestellt hat.
2024 verliert Deutschland gegen Spanien im EM-Viertelfinale der Männer. Ich sitze vor einer riesigen Leinwand, in hohen Schuhen und einem langen Kleid, das sich nicht nach mir anfühlt. Es ist der Abend meines Abiballs.
So geht meine Schulzeit im Juli 2024 zu Ende. Dreizehn Jahre meines Lebens und das ist der glorreiche Höhepunkt: Ein paar Dutzend Tische in der Pop-Mensa, Musik die ich nicht mag und meine leicht angeschwipsten Lehrerinnen und Lehrer, die sich über ein Handspiel beschweren. Die Stimmung könnte echt besser sein.
Es ist komisch, in derselben Stadt zu studieren, in der man seine Schulzeit verbracht hat. Viele Orte rufen Erinnerungen aus unterschiedlichsten Lebensphasen hervor und erinnern an eine Person, mit der ich mich gar nicht mehr identifizieren kann. Fast die Hälfte der Schulabgänger:innen fühlen sich einer Studie zufolge nach dem Abschluss orientierungslos. Gleichzeitig scheinen Zukunftspläne aber auch, das einzige Gesprächsthema zu sein. Die gut gemeinte Frage “Und was machst du jetzt so?” setzt viele junge Menschen ohne einen ausformulierten 30-Jahre Lebensplan unter Druck.
Vergraben unter dem Sorgen-Berg
Wenn ich an die Person zurückdenke, die ich vor einem Jahr war, dann denke ich vor allem an Sorgen und Stress. Es ist so, als wäre sie eine einzige Assemblage an Ängsten gewesen.
Wie finde ich eine Wohnung?
Habe ich mich für das richtige Studium entschieden?
Was, wenn ich keine Freund:innen finde?
Wie erstelle ich überhaupt einen Stundenplan?
Was zur Hölle ist das akademische Viertel?
Was ist, wenn ich im Studium richtig versage?
Sind eine Küche und kein gottverdammter Teppichboden zu hohe Ansprüche???
Für zu lange war WG-Gesucht die erste und letzte App, die ich am Tag geöffnet habe. Ich wurde darauf mehr geghosted als auf jeder Dating App ever und irgendwann wurde es wirklich körperlich belastend. Kein Wunder, seit einer Studie der Duke University von 2015 wissen wir, dass Ablehnung wirklich buchstäblich wehtut. Es werden nämlich die gleichen Synapsen wie bei körperlichem Schmerz stimuliert und das immer und immer wieder, bei jeder neuen Absage.
Insgesamt war ich also schon zu Anfang meines Studiums so erschöpft, dass ich hinterfragt habe, ob das Studieren überhaupt was für mich ist.
Und dann die Menschen.
So. viele. neue. Menschen.
So. viel. Smalltalk.
Horror.
Schmetterlinge sind schreckhaft
Während meiner Schulzeit wurde ich oft als ‚Social butterfly‚ bezeichnet. Das war wahrscheinlich nett gemeint, bedeutet aber eigentlich, dass ich keinen besonders stabilen Freundeskreis hatte.
Ich chille einfach gerne mit vielen verschiedenen Leuten.
Ich habe einfach oberflächliche Beziehungen.
Das ist schon in Ordnung so.
Dabei sagt die Wissenschaft: Gute Freundschaften sind das beste Mittel, um mental und körperlich gesund zu bleiben. Ein stabiles soziales Netz stärkt das Immunsystem und senkt das Risiko für so ziemlich jede psychische und physische Krankheit. Laut einer Metaanalyse mit 148 Studien spielen Freundschaften sogar eine größere Rolle für die Lebenserwartung als das Körpergewicht oder Sport.
Das waren nicht die besten Bedingungen, um ins Uni-Leben zu starten und das Vertrauen in meine Socialising-Skills tendierte gegen null. Aber zwischen dem ganzen Wohnungs-, Uni- und Beziehungs-Chaos hat sich langsam ein Gedanke in meinem Kopf formiert:
Wenn mich niemand mag, kann ich ja einfach drei Jahre anonym im Hörsaal sitzen. Mit niemandem reden und direkt nach der Vorlesung gehen. Passiert ja nichts!
Ein Jahr später
Ja, das war mein Masterplan …
Klingt jetzt schlimmer als es ist! In diesem Fall vom Worst-Case auszugehen, war irgendwie sehr tröstlich. Es hat mir sehr viel Druck genommen, einfach zu sagen: F*ck it!
Das erste Mal seit Ewigkeiten habe ich einfach existiert, ohne die ganze Zeit irgendwo reinpassen zu wollen und ohne ständig aktiv etwas an mir zu verändern. Dadurch konnte ich mich selbst kennenlernen und auch wenn es kitschig klingt, die Leute, die euch dann wirklich mögen, finden euch einfach. Diese Möglichkeit hatte ich während der Schule wirklich nicht auf dem Schirm. Das wäre ja auch irgendwie zu leicht.
Das Ich von vor einem Jahr wäre wahrscheinlich entsetzt, wenn sie mich sehen könnte.
Ich bin nicht die perfekte Studentin. Ich schreibe dreier Klausuren, koche viel zu selten und gebe zu viel Geld für diverse koffeinhaltige Getränke aus … Aber irgendwie klappt am Ende doch das Meiste.
Heute spielt Deutschland gegen Spanien im EM-Halbfinale der Frauen. Ich werde das Spiel nicht schauen. Bis heute konnte ich keine Begeisterung für Fußball aufbauen … Okay, ich geb’s zu, ich kenne die Regeln auch nicht. Stattdessen sitze ich jetzt in meinem Lieblings-Pyjama auf der Couch, esse Salzstangen und warte darauf, dass meine Friends mir schreiben, wie das Spiel war.