Das GOP Varieté-Theater hat eine neue Show: Sông Trăng . Dieses Mal entführen 13 Artisten aus Vietnam die Zuschauer in eine Kultur, die exotisch scheint und einem doch merkwürdig bekannt vorkommt. Wir waren für euch bei der Premiere.
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Die asiatische Kultur weckt in jedem bestimmte Assoziationen. Obwohl der ferne Osten 59% der Weltbevölkerung beherbergt, gibt es, abgesehen bei den 3,80€ Chinanudeln, bei uns in Deutschland recht wenig echte Berührungspunkte. Durch den Work-and-Travel-Hype, der viele nach dem Abitur nach Thailand oder China verschlug, gibt es zwar glücklicherweise immer mehr Menschen, die sich eingehend mit der asiatischen Kultur beschäftigen, doch für die meisten von uns ist dieses Bild von Klischees geprägt.
Als in den 70er Jahren Bruce Lee auf der Bildfläche erschien, folgten zahlreiche Karate-Filme, die gewisse Stereotypen vermittelten: Ein kleines Fischerdorf, in dem die Menschen noch mit Holzstöcken angeln. Drahtig-muskulöse Männer, die Steinblöcke mit ihrer bloßen Hand spalten und langbärtige Lehrmeister, die das ganze überwachen. Grazile Frauen, die in einem malerischen Blumenfeld sitzen, während im Hintergrund eine Flöte ertönt. Ich muss zugeben, dass auch ich von diesen Klischees geprägt war, als ich mich fragte, was die Zuschauer bei der Vorführung erwarten würde. Obwohl ich weiß, dass die asiatische Kultur so viel mehr ist als dieses reduzierte Bild, verfällt man immer wieder in die gleichen Muster. Schon die Begrifflichkeiten zeigen es auf: Ich spreche von „asiatischer Kultur“, obwohl das Stück komplett in Vietnam geschrieben, geprobt und uraufgeführt wurde. Auch die Artisten kommen allesamt aus Vietnam und doch verbinde ich damit leider nur den schrecklichen Krieg in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Vietnam nicht von seinen Nachbarländern abzugrenzen ist, als würde man Deutschland, Frankreich und Italien in einen Topf werfen. Doch ich war bereit, den Begriff „Vietnam“ neu besetzten zu lassen.
Nur das Nötigste
Der Rahmen des Abends war so schön, dass es sich kaum lohnt, eine ausführliche Kritik darüber zu schreiben: Atmosphäre und Essen waren toll, ein fantastisches drei Gänge Menü (sofern man sich dazu entscheidet, dieses dazuzubuchen) sorgt sofort für eine gute Stimmung. Das Essen war allerdings nicht traditionell vietnamesisch, sondern herbstlich-deutsch. Vor dem Essen richteten der Direktor Werner Buss und der Regisseur Knut Gminder noch einige Worte an die Zuschauer. Hier erfahren wir, dass das Stück in Hanoi, der Hauptstadt von Vietnam entstanden ist. Dort traf Knut die Schausteller, die von der Vietnamese Circus Federation, dem Nationalzirkus, stammen und ließ sich von den Eindrücken inspirieren. Es heißt, das Stück wurde für ein westliches Publikum angepasst. Manche Dinge die auf der Bühne passieren, seien für uns „unverständlich“, könnten aber dennoch berühren. Auch die Schere zwischen Stadt und Land ist ein großes Thema. Das Bühnenbild ist so minimalistisch wie möglich gehalten: Keine Vorhänge, keine Technik, nur eine szenische Beleuchtung. Knut erklärt, dass vietnamesisches Theater fast ausschließlich mit der traditionellen Darstellung des Lebens arbeitet: Das idyllische vietnamesische Dorf, abgeschottet von der Welt, stehen geblieben im Geiste der Zeit. Die Show auf der Bühne ist keine Abbildung des vietnamesischen Alltags, sondern eine angepasste Version des vietnamesischen Theaters, die noch etwas mehr zeigen soll, als das verklärte Bild des Dorfes. Nach dieser Ansprache konkretisieren sich meine Vorstellungen von der Show immer mehr, aber noch immer ist mir nicht ganz klar, was ich erwarten soll.
Physikalische Gesetze? Nein danke!
Sobald der Vorhang (der einzige, der nicht zu vermeiden war) sich öffnet, erkennt man sofort, dass die Bühne nackt ist. Ein großes Gebilde aus Bambusstämmen steht an der Seite und in der Mitte hängt ein einziger großer Ring von der Decke. Bevor die Schausteller auf die Bühne kommen, sehen wir einen kurzen Film, der einige Impressionen von Vietnam zeigt.
Sobald er vorbei ist, laufen Menschen mit bunten Tüchern auf die Bühne und ziehen diese sehr lang, sodass es wie ein Meer aus farbigen Wellen wirkt. Die ersten Räder werden geschlagen und sofort wird klar, dass diese Akrobaten nichts von physikalischen Gesetzen halten.
Vor der Show wurde das Publikum gebeten, immer zu klatschen, wenn etwas besonders gefällt oder sehr berührt. Nach kurzer Zeit trauen sich die Leute auch, den Applaus zu starten und für jemanden wie mich, der in der vierten Klasse noch nicht einmal eine Stange hochklettern konnte, ist es wirklich schwer, nicht die gesamte Vorstellung über zu klatschen. Immer wieder sieht man Dinge, die besonders beeindruckend sind, aber es fühlt sich nicht fair an, nur für die besonders lebensgefährlichen Kunststücke zu klatschen.
Zwischenzeitlich vergisst man, dass dort tatsächlich Menschen auf der Bühne stehen, die diese Kunststücke vollbringen. Erst wenn ich mich auf einen einzigen Artisten konzentriere, erinnere ich mich daran, dass es nicht selbstverständlich ist, mit einem Arm von der Decke zu hängen und dabei den Körper mal steif wie ein Brett, mal verschlungen wie einen Knoten zu formen. Die Artisten vollführen ihre Kunststücke mit solch stoischen Minen und einer solchen Anmut, dass man kurz vergisst, welche unglaubliche Kraft die vielen Handstände, Salti und Kletteraktionen benötigen. Nur das Muskelspiel an Brust und Armen erinnert von Zeit zu Zeit an die sportliche Höchstleistung, die diese Menschen von nun an mehrmals die Woche vollbringen werden.
Gekonntes Nicht-Können
Zwischendurch betritt ein Schausteller die Bühne, der aus der Masse heraussticht. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und Shorts und in seiner Hand befindet sich – ein Selfiestick! Nicht das traditionellste Werkzeug, wie es mir scheint. Diese Figur, gespielt von Hiep, ist komödiantisch und tollpatschig. Er versucht, die Tricks nachzuahmen, scheitert aber daran, dass eine Hand für den Selfiestick frei bleiben muss. Mich beeindruckt die gekonnte Unfähigkeit, mit der Hiep seine Figur wie einen alltäglichen Menschen wirken lässt. Natürlich ist auch er ein durchtrainierter Akrobat, der eine Hauswand in wenigen Sekunden erklimmen könnte, doch auf der Bühne lässt er sich (meistens) nichts davon anmerken. Er nutzt eine besondere Art von Humor, die in Deutschland nicht üblich ist: Sie kommt ohne Ton aus, ist aber doch nicht Slapstick. Ich fühle mich, als würde mir ein Spiegel vorgehalten. Genau wie Hiep filme ich die Artisten und wünsche mir, genauso beweglich zu sein. Möglicherweise ist die Figur eine Metapher für die Zuschauer, vielleicht soll sie aber auch die Schere zwischen Tradition und Moderne in der vietnamesischen Kultur repräsentieren. Mit seinem Selfiestick erinnert er nämlich doch sehr stark an asiatische Reisegruppen, die manchmal vor der Beethovenstatue kampieren.
Männer und Frauen und sehr viel Vertrauen
Neben diesen Intermezzi sehen wir mal eine sehr maskuline Show, in der nur die männlichen Artisten auf der Bühne sind und sich mit lauten „HE“-Rufen Bambusstämme zuwerfen. Die Trommelklänge und das rote Licht zeichnen das Bild vietnamesischer Krieger, mit denen man sich lieber nicht anlegen sollte. Auch mit Quarterstaff und Nunchakus hantieren die Künstler gekonnt. Hin und wieder hat man die erschreckende Erkenntnis, dass jederzeit einer dieser Stäbe ins Publikum fliegen könnte.
Auch rein weibliche Einlagen gibt es, bei denen die Frauen wie Lilien gekleidet sind und mit eleganten Bewegungen die Zuschauer verzaubern. Die scheinbar zierlichen Figuren halten sie aber nicht davon ab, auf einem hohen Turm auf einem Arm zu balancieren. Die Akrobatinnen überdecken ihre Kraft so sehr mit ihrer Anmut, dass es fast wirkt, als könnte nicht jede einzelne von ihnen mich mit dem kleinen Finger beim Armdrücken besiegen. Doch dies ist kein Kräftemessen, sondern Kunst. Die besten Szenen sind diejenigen, in denen alle gemeinsam auf der Bühne sind. Die Frauen wirbeln mit allen Gliedmaßen große Stofftücher durch die Luft, während die Männer sie auf dem Rücken über Holzgestell tragen. Was vor wenigen Sekunden noch mehrere kleine Leitern waren, verschmilzt zu einem Gebilde, auf dem ein Schausteller, zwar vorsichtig aber bestimmt, eine Artistin auf dem Kopf tragen kann. Schon von außen sieht es wahnsinnig aus, doch die Vorstellung selbst auf einem Kopf getragen zu werden, verschließt sich meiner Vorstellungskraft.
Tradition und Moderne
Nach der Pause ändert sich etwas. Plötzlich hört man vietnamesischen Rap, der mit rhythmischen Beats die Bewegungen der Tänzer*innen unterstreicht. Die Show scheint in der zweiten Hälfte moderner gestaltet zu sein, jedenfalls die Musik. Plötzlich erleben wir auch sehr intime Momente. Ein Mann und eine Frau auf einem Floß, während sie unter dem glänzenden Mond Fische fangen. Und selbst das Auswerfen des Fischernetzes, eine alltägliche Aufgabe für vietnamesische Fischer, erfordert mehr Talent, als die schwierigste Yoga-Pose, zu der ich in der Lage bin.
Eine gefühlvolle Schaukel-Szene lässt abermals Emotionen aufkochen, ich allerdings bin erst am Ende der Show wirklich berührt. Die Artist*innen kommen auf die Bühne zu einem Lied, das nur die vietnamesische Nationalhymne sein kann. Sie schwenken eine große bunte Fahne, die traditionelle Festivalflagge Vietnams, und führen noch einmal ihre besten Tricks in Kurzform auf. In diesem Moment merke ich, dass sie stolz auf ihr Land sind und sich freuen, dem deutschen Publikum Vietnam zu präsentieren, wie sie es selbst sehen, in all der Schönheit und Stärke, die in unserer Kultur niemals ankommt. Das Publikum applaudiert und die Artist*innen bekommen wohlverdiente Standing Ovations.
Wurden meine Vorurteile beseitigt? Ja und nein. Zum einen habe ich den Begriff „Vietnam“ nun neu für mich besetzt und assoziiere ihn jetzt mit einer reichhaltigen und schönen Kultur, mit Eleganz und Stärke und mit dreizehn fantastischen Künstlern, die dort ihr Leben verbringen. Zum anderen wurden aber auch Klischees bestätigt. Das rurale, traditionelle Leben wurde so dargestellt, wie man sich ein unberührtes Asiatisches Dorf vorstellt. Naturverbunden und irgendwie in der Zeit stehen geblieben. Die Männer kriegerisch, die Frauen geschickt. Aber man muss verstehen, dass auch dies nur die theatralische Darstellung der vietnamesischen Kultur ist und nicht die Wirklichkeit.
Alles in allem eine fantastische Show, die man sich angucken sollte, wenn man die Möglichkeit dazu hat. Ein GOP-Gutschein eignet sich jedenfalls gut für Weihnachten.