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Zirkus – Bühne für freie Kunst oder Schauplatz veralteter Gesellschaftsnormen?

Lesezeit: 4 Minuten

Fällt das Wort “Zirkus”, könnten die Meinungen oft nicht unterschiedlicher sein. Für die einen bedeutet Zirkus Unterhaltung durch atemberaubende Akrobatik und Elefanten, Tiger und Zebras, die Kunststücke vorführen. Viele andere lehnen den Zirkus mittlerweile aufgrund von Tierleid ab. Was bisher wenig Platz in der Debatte findet: Sexismus und sexueller Missbrauch der Akrobat*innen. Ich war letztens im Zirkus und möchte einen tieferen Blick darauf werfen, warum Zirkus vielleicht noch sexistische Strukturen aufweist und welche sexualisierenden Erfahrungen die Akrobat*innen häufig machen müssen.

Wann wart ihr das letzte Mal im Zirkus? Wahrscheinlich ist das schon ein Weilchen her, oder? Als ich meinen Freund*innen erzählt habe, dass ich vor ein paar Wochen in einer Zirkusvorstellung war, waren sie zumindest sehr überrascht. To be fair, meine Mutter hat mich dazu angeregt, die Karten zu kaufen, alleine wäre ich wahrscheinlich nicht im Traum darauf gekommen, in den Zirkus zu gehen. Doch warum eigentlich nicht, denn die Kunst, die ich dort erlebt habe, war keineswegs nur auf Kinder ausgerichtet. Und trotzdem waren die meisten wahrscheinlich als Kind das letzte Mal im Zirkus. Mir persönlich sind jetzt Dinge aufgefallen, die ich früher einfach hingenommen und nicht weiter hinterfragt habe. Vielleicht denkt ihr jetzt direkt an Tiere, die früher charakteristisch für Zirkusvorstellungen waren, wie Löwen, Tiger oder Elefanten. Tatsächlich ist die Debatte rund um Tierleid in Zirkussen nach wie vor aktuell, allerdings auch ein Thema, das in vielen Köpfen bereits angekommen ist. Die Vorstellung, die ich besucht habe, fand ohne Wildtiere statt, was in anderen größeren Zirkussen inzwischen auch Standard ist. Umso mehr Gelegenheit hatte ich, mich auf die Darsteller*innen zu fokussieren, vor allem auf die Tänzer*innen und Akrobat*innen.

Kunst, Körper oder beides?

Im Laufe der Akrobatik Vorführungen hatte ich vermehrt ein mulmiges Gefühl, direkt einordnen konnte ich das aber nicht. Erst als zum ersten Mal ein Mann im Akrobatik-Kostüm die Bühne betrat, wusste ich, woher mein Gefühl kam. Bei den Frauen hatte ich mich unterbewusst auf ihre Körper fokussiert, weniger auf ihre Darbietung, bei den Männern war das fast umgekehrt. Und das lag keinesfalls an der Qualität der Darbietung, sondern an den Klamotten der Künstler*innen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Während die Männer trotz ähnlich atemberaubender Kunststücke, lange Hosen und Overalls trugen, führten die Frauen ihre Kunst weniger bekleidet auf. Ihre Kostüme waren beinfrei und sehr eng anliegend, teilweise hatten sie obenrum nur Bikini-Oberteile an. Aber nicht nur die Kleidung der Akrobatinnen kam mir klischeehaft vor, auch die aufgeführten Tänze schienen mir immer wieder darauf ausgelegt, den weiblichen Körper mehr in Szene zu setzen, als den männlichen.

Diese Geschlechter-Trennung in der Zirkusmanege habe ich als Kind noch unreflektiert wahrgenommen, unterbewusst hat sie meine Sicht auf Rollenklischees damals wahrscheinlich bestärkt. Ich möchte wetten, dass die vielen anderen Kinder, die mit mir im Publikum saßen, ähnlich wenig reflektieren konnten, was in der Manege gezeigt wurde.

Aber was spricht eigentlich gegen körperbetonte oder knappe Kleidung? Tänzer*innen und Akrobat*innen müssen sich für ihre Kunst möglichst frei und angenehm bewegen können, dafür eignet sich enge Kleidung am Besten. Außerdem darf jeder Mensch sich so kleiden, wie er möchte, auch wenn die Kleidung damit klischeehaften Gender Roles entspricht oder viel Haut gezeigt wird. Die Kleidung sollte nichts über das Geschlecht einer Person aussagen.

Allerdings entscheiden die Künstler*innen im Zirkus nicht immer selbst über ihr Kostüm, sondern kriegen es von ihren Vorgesetzten vorgeschrieben.  Wenn diese dann klar zwischen männlichen und weiblichen Kostümen unterscheiden, werden klischeehafte Rollenbilder reproduziert.

Neben Sexualisierung durch Kostüme: Auch sexuelle Belästigung im Zirkus

Das schweizer Zirkus Festival Young Stage thematisiert inzwischen offen, dass es auch in der Zirkus-Branche, ähnlich wie im Sport, immer wieder zu Missbrauch und sexualisierter Gewalt gegenüber den Künstler*innen kommt. Der Verband der Internationalen Zirkusschule Fedec hat aufgrund dessen bereits Trainings an Zirkusschulen und Workshops organisiert, um Aufmerksamkeit für das Thema zu schaffen und gegen die Sexualisierung vorzugehen. So erzählt auch die Hula Hoop Artistin Gwenadou Schroeck LeLoeck im Interview mit couchFM von ihren Sexualisierungs-Erfahrungen aufgrund knapper Kostüme. Sie erzählt vom Druck, wenig Kleidung bei den Vorstellungen tragen zu müssen, da sich diese dann besser verkaufen. “Man hat halt diesen sexualisierten Körper. Und der ist auf der einen Seite total toll und richtig schön, und man freut sich darüber, dass man als attraktiv wahrgenommen wird. Gleichzeitig ist es aber auch ein immenser Druck, weil du weißt, das ist die Art wie man mich auf der Bühne sehen möchte.” Auch sie erfuhr mit 18 Jahren zum ersten Mal sexualisierte Gewalt in ihrem Beruf. “Es ist bestimmt meine Schuld” und “Vielleicht hätte ich mich doch anders anziehen sollen”, waren damals Gedanken, die sie belasteten. Inzwischen ist sie sich sicher, dass knappe Kostüme keine Schuld daran tragen, und auch gegen eine erotische Inszenierung von den Künstlerinnen spricht sie sich nicht aus; genauso dürften Männer sich aber ebenfalls in Szene setzen. Die Rolle, die sie im Zirkus spielt, möchte sie verlassen, sobald die Vorführung endet und als Person nicht weiter sexualisiert werden. 

Zirkus noch aktuell?

Wenn ihr Zirkusvorstellungen weiterhin eine Bühne bieten wollt, dann wird es vielleicht schwierig, eine Vorführung zu finden, die keine sexistischen Rollenklischees erfüllt, da dies teilweise allein durch bewegungstechnische Gründe erforderlich ist. Alle Künstler*innen sollten hier selbst entscheiden dürfen, wie sie sich in Szene setzen wollen – egal ob Frauen, Männer oder nicht-binäre Personen. Knappe Kostüme und viel Haut, egal wie sie präsentiert werden, dürfen aber niemals eine Rechtfertigung für Sexualisierung und sexualisierte Gewalt sein. Die Schuld hieran tragen immer die Täter*innen. Letztendlich ist ein Zirkus natürlich auch ein kapitalistisches Unternehmen, welches finanziell überleben muss und sich auch vielleicht daher auf klischeehafte Rollenbilder und viel nackte Haut bei Künstlerinnen stützt. Es wäre  aber auch erfrischend, in Zukunft mehr Programme zu bieten, die aktiv geschlechtsspezifische Rollenbilder auf die Schippe nehmen oder neu entwerfen.

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