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Bild: Catcalls of Bonn

„Es ist nicht die Schuld der Betroffenen” – Catcalls of Bonn kreidet Belästigung in der Öffentlichkeit an

Lesezeit: 4 Minuten

„Titten bisschen klein, dafür fetten Schwabbelarsch!“ sagte ein Mann zu einer vorbeigehenden Frau auf der Poppelsdorfer Allee. Das ist kein Einzelfall. Der Verein Catcalls of Bonn macht verbale sexuelle Belästigung in der Stadt mit Kreide sichtbar. Im Interview erzählen sie von Zielen, Herausforderungen und ihrer Installation im Frauenmuseum.

Catcalling ist kein Kompliment

Catcalling beschreibt verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum. Dazu gehören unter anderem Pfiffe, sexistische oder sexualisierende Witze, das Anhupen und Anstarren. Das erleben vor allem weiblich gelesenen Personen. Dabei beziehen sich Äußerungen meist auf den Körper der Betroffenen.

Häufig werden sexualisierende Ausrufe, wie „geile Titten“, als „Komplimente“ abgetan. Allerdings handelt es sich um die Sexualisierung und Objektivierung des weiblichen Körpers. Implizit wird so Macht ausgeübt. Täter:innen denken, sie könnten sich erlauben, eine fremde Person zu bewerten. Es ist ein Symptom der patriarchalen Gesellschaft.

Ankreiden – Aktivismus für Awareness

Wenn man Catcalling in Bonn erlebt, kann man Catcalls of Bonn (@catcallsof.bonn) auf Instagram schreiben. Die Aktivist:innen machen die Belästigung sichtbar, indem sie das Erlebte ankreiden – genau an dem Ort in der Stadt, wo es geschehen ist. Auch posten sie es auf ihrem Account. Seinen Ursprung hat das Ankreiden von Catcalling auf den Straßen New Yorks. Sophie Sandberg hat mit @catcallsofnyc schon im Jahr 2016 begonnen, darauf aufmerksam zu machen. Alle Catcalling-Accounts gehören zum Dachverband Chalk Back, der insgesamt 150 Vereine in 49 Ländern umfasst.

Die Worte aus bunter Kreide sind eine kurzweilige Erinnerung daran, was besonders junge Frauen erleben müssen. Sie lassen das Gesagte nicht kommentarlos von der Stadtluft verwehen, sondern lenken den Blick darauf, was sich bei Betroffenen festsetzt. Worte bleiben, auch wenn der Regen die Kreide bald wieder abwäscht.

Gegen das Wegschauen

Der Bonner Account wurde im Sommer 2020 von Franziska gegründet. Laut ihr denken viele, „dass wir einfach nur den Männern quasi eins überziehen wollen. Und dass wir einfach sagen wollen ,Alle Männer machen das!‘ […] Das ist ja absolut genau das Gegenteil.“ Stattdessen gehe es ihnen darum, die Betroffenen zu unterstützen. Der Verein nimmt sie sich ihnen an, fängt sie auf. Sie wollen, „dass die Betroffenen verstehen: ,Das was gerade mit mir passiert oder gerade mit mir gemacht wurde ist überhaupt nicht okay.‘“, erzählt Victoria, die seit etwa einem Jahr dabei ist.

Ziel ihrer Aktionen sind auch jene, die Catcalling als Außenstehende mitbekommen. Männer, die
einander auf sexistisches Verhalten hinweisen können. Die Person, die vom Einkaufen nach Hause geht. Die Menschen, die mit Kopfhörern im Zug sitzen. Es ist wichtig, „dass die Leute, die nicht betroffen sind eine Auge für diese Situationen haben und eben dann den Betroffen auch beistehen. Und einfach eine Sensibilisierung stattfindet.”, erzählt Judith, Mitglied von Catcalls of Bonn.

Der Mensch hinter der Nachricht

Auf dem Account sind mittlerweile über 300 Beiträge. Die Aktivist:innen müssen mit der Flut an persönlichen und verletzlichen Erfahrungsberichten in ihrem Postfach umgehen. Das ist nicht einfach. „Alle bleiben irgendwie im Kopf”, erzählt Franziska. Aber „sie verschwimmen auch natürlich, weil es so, so viele sind.”

Für weiblich gelesene Personen ist verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum normal, erwartbar. Etwas, worauf sie sich eben einstellen müssen. Dann geht man einfach nicht allein nach Hause. Dann zieht man mal eine lange Hose an. Franziska erzählt, dass man sich irgendwann einfach an die Erfahrungsberichte gewöhnt – an Catcalling. Das macht es aber nie weniger schlimm. Noch immer merkt sie, „dass man bei jedem Mal, bei jeder Nachricht denkt: ,Das kann nicht wahr sein, dass das passiert ist. Das ist so abstrus, das kann einfach nicht wahr sein, das muss ausgedacht sein.‘ Und das ist natürlich nicht ausgedacht. Wir erleben es ja auch am eigenen Leib.“

Den perfekten Umgang gibt es nicht

Manche Betroffene erzählen von aufdringlichen Blicken und sexistischen Witzen, manche von sexuellen Gesten, andere von Beleidigungen. „Alle gehen nah”, findet Franziska. Aber es gibt Abstufungen. „Wenn uns eine 11-Jährige schreibt, ist das was anderes, als wenn uns eine 28- Jährige schreibt.” Sie wollen präventiv Einfluss nehmen, aufklären. Dazu gehen sie auch in Schulen. Es ist wichtig, zu unterstützen, „besonders weil das Alter der Betroffenen auch immer jünger wird“, erzählt Victoria.

In vielen Nachrichten berichten Betroffene, dass sie sich im Nachhinein geärgert haben. Einige waren so erschrocken, dass sie gar nichts sagen konnten. Der perfekte Konter kam erst mit etwas Abstand zum Geschehen. „Man kann nicht durch die Gegend rennen und ständig perfekt auf alle möglichen Catcalls vorbereitet sein.“, versucht Judith den Ärger der Betroffenen über sich selbst zu mäßigen. „Es gibt keine perfekte Reaktion. Jede Reaktion ist eine valide Reaktion.” Vom stummem Ertragen bis zum Losschreien. Alles ist in Ordnung, denn „es ist nicht die Schuld der Betroffenen, diese Situation zu beherrschen.“ Judith betont, dass die eigene Sicherheit immer an erster Stelle stehen muss.

Ausstellung im Frauenmuseum

Aktuell bietet das Frauenmuseum dem Verein eine Plattform. Sie sind Teil der Ausstellung FLINTA*_Best Age, die sich mit dem Leben und Älterwerden von FLINTA-Personen beschäftigt. Catcalls of Bonn ist dort genau richtig, meint Silke Dombrowsky, eine der Kuratorinnen der Ausstellung. „Weil es eine gute Tradition ist, bei Ausstellungen im Frauenmuseum Aktivist:innen Raum zu geben.“ Außerdem gibt es einen direkten Bezug zum Thema „Altern“ – Personen jeden Alters können von Catcalling betroffen sein. „Dieses Generationsübergreifende, auch in der Erfahrung verbal verletzt zu werden ist eine wichtige Nachricht dessen, dass wir nicht müde werden dürfen, die Sachen der Frauenbewegung weiterzutragen.“, findet Dombrowsky.

Die Ausstellung wurde von Judith und Vanessa konzipiert. In einem kleinen Raum, etwas abseits, ruhig. Manchmal erklingt ein Pfiff aus den Lautsprechern. „Wie haben quasi das Digitale ins Reale geholt“, erklärt Judith das interaktive Konzept. An der Wand hängen Bilder von Kreidungen und die Geschichten dazu. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch mit Kreide, um das Ankreiden auszuprobieren. Es wird eingeladen, Gefühle mit Zetteln an die Wand zu bringen. „Ohnmacht“ und „sich trotzdem schuldig fühlen“ steht da. Noch bis zum 05.11.2023 kann man die Ausstellung im Frauenmuseum besuchen.

Zum Ende, auf die Frage, ob sie noch etwas loswerden wollen, sagen Judith und Franzi „Fuck the patriarchy“ und „Stop Catcalling“ ins Mikrofon. Da ist viel Frust, aber auch Hoffnung, dass ihr Aktivismus etwas verändern kann.