Vor einer Woche ging die Jubiläumsausgabe des größten Filmfestivals in Deutschland und eines der größten der Welt zu Ende. Nach einer sehr intensiven Festivalwoche mit 45 gesehenen Filmen lasse ich nun Revue passieren und blicke auf die Filme und Themen zurück, die die Öffentlichkeit auf dieser Berlinale beschäftigt haben.
Ein Publikumsfestival – mehr denn je
Seit ihrer Gründung im Jahre 1951 präsentiert sich die Berlinale als größtes Publikumsfestival der Welt – und mit diesjährigem Rekordwert an verkauften Tickets lässt sich diese Aussage bestätigen. Mehr als 336.000 Kinobesuche gab es bei der 75. Festivalausgabe, also so viele wie noch nie zuvor in der Festivalgeschichte. Konkret bedeutet das: Ausverkaufte Vorstellungen, volle Kinosäle, internationale Filmteams zu Gast in Berlin und spannende neue Begegnungen mit anderen filmbegeisterten Menschen – all das ist die Berlinale, und so wird sie für uns in Erinnerung bleiben. Ganz besonders stachen für mich dabei die Vorstellungen der Sektion „Generation“ heraus: Wenn man in einem Kinosaal voller Kinder sitzt, wird das Kinoerlebnis mal ganz anders. Denn Kinder zeigen ihre Faszination fürs Kino laut und deutlich – nach dem Glanz und Glamour des immer rappelvollen und engen Berlinalepalasts ein absoluter Perspektivenwechsel. Kinder stellen den Filmemachenden direkte und ehrliche Fragen, machen Kommentare, ohne sich dabei einschüchtern zu lassen.
Auch die Spielstätten der Berlinale sorgen für eine besondere Festivalatmosphäre. Jeder Raum kann zum Kinosaal werden: Der berühmte Berlinalepalast sowie die neue Spielstätte Stage Bluemax Theater sind im Alltag Theaterräume. Die Veranstaltungen der Sektion „Forum“ finden im
Silent Green in Wedding statt, einem ehemaligen Krematorium, nun ein Kunst- und Kulturquartier. Alte Klassiker aus der Retrospektive schaut man
in der Akademie der Künste und die Wettbewerbsfilme laufen sonst im Haus der Kulturen der Welt, das mitten im Tiergarten steht. Sogar in einem
Gefängnis im Norden von Charlottenburg werden Berlinale-Filme geschaut. Mein persönlicher Favorit ist dabei das Filmtheater am Friedrichshain – ein prächtiges Kino mitten im Kiez mit den bequemsten Sitzen der Welt.
Die Entpolitisierung des Politischen
Die Berlinale ist ein politisches Filmfestival – so positioniert sie sich zumindest in der Öffentlichkeit. Eine Tendenz ließ sich allerdings bereits in den ersten Festivaltagen klar erkennen, nämlich eine Entpolitisierung des Politischen. Das Eklat (mehr dazu in diesem bonnFM-Beitrag) mit der Dokumentation No Other Land aus dem letzten Jahr hat offensichtlich tiefe Spuren hinterlassen. Der Wettbewerb verkörperte in diesem Jahr den Individualismus. Die Filme beschäftigten sich mit kaum anderen Themen als die Krise des Persönlichen und des Privaten, Familiengeschichten und Mutterschaft; als ob sich das Festival und das Kino von der politischen Öffentlichkeit distanzieren wollten. Noch mehr gilt diese Aussage für die Gewinner des Goldenen und der Silbernen Bären. Der mit dem Goldenen Bären ausgezeichnete norwegische Film Drømmer thematisiert die erste Liebe und ihre Aufarbeitung. Der US-amerikanische If I Had Legs I’d Kick You (Silberner Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle) zeigt Horrorperspektiven der Mutterschaft. Im argentinischen El mensaje (Silberner Bär Preis der Jury) geht es um eine von der Armut bedrohte Kindheit in der tiefsten Provinz. Im chinesischen Sheng xi zhi di (Living the Land) (Silberner Bär für die Beste Regie) wird gar eine Familiengeschichte in einem chinesischen Dorf in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs der 90er Jahre erzählt. All diese Geschichten bleiben auf einer sehr persönlichen Ebene, ohne die vorhandenen Probleme auf die sozialen und strukturellen Umstände zurückzuführen. Herausstechen dürfte dabei am ehesten Kontinental ’25 (Silberner Bär für das Beste Drehbuch) des rumänischen Regisseurs Radu Jude, der primär für seine bitterböse gesellschaftskritische Satire bekannt ist. Jude blieb seinem Stil treu und drehte (mit einem iPhone!) einen minimalistischen Film, der moralische Schuld aus Sicht einer Beamtin in Rumänien untersucht. Diese hat nämlich durch ihren Job dafür gesorgt, dass ein Obdachloser aus seinem Keller verdrängt werden sollte und sich aufgrund der Perspektivlosigkeit das Leben genommen hat. Die Beamtin ist am Ende ein Teil der Gesellschaft, in der man sich nicht unbedingt um den Nächsten kümmern muss, denn, so zynisch wie es klingt, man ist mit dem eigenen Kram beschäftigt – also geht auch dieser Film in einem gewissen Maße auf das Individualistische ein.

Auch die publikumsorientierte Sektion Panorama, in der letztes Jahr unter anderem No Other Land seine Premiere feierte, folgte dem allgemeinen Trend zum Unpolitischen. Ein Film, der diese Tendenz aus meiner Sicht besonders verkörpert, ist Yalla Parkour – eine palästinensische Dokumentation aus dem Gazastreifen, entstanden zwischen 2015 und 2023, die Jugendliche aus Parkour-Gruppen begleitet. Sie filmen ihre Parkour-Übungen und laden die Videos im Internet hoch, um Aufmerksamkeit aus dem Ausland zu erzeugen und als Sportler den Gazastreifen verlassen zu dürfen. „Gaza ist ein Open-Air-Gefängnis“, sagen die Jugendlichen im Film. Akzentuiert wird ihr weiteres Schicksal und die Unmöglichkeit, rauszukommen. Die Regisseurin Areeb Zuaiter kommentiert an manchen Stellen, dass sie nicht weiß, wie viele von ihnen noch heute am Leben sind. Diejenigen, denen eine Auswanderung gelingt, kommen nie wieder zurück. Im Q&A gesteht die Regisseurin, dass sie lieber die menschliche Perspektive aus dem Gazastreifen zeigen möchte. Der Gaza-Krieg oder Israels Angriffe als Gründe für die Umstände, in denen diese Jugendlichen leben, werden zu keinem Zeitpunkt genannt, was an sich ein genauso starkes Statement ist. Denn die Tatsachen, über die geschwiegen wird, sind Teil des politischen Diskurses.
Ob sich diese Form der Entpolitisierung des Films dieses Jahr in der Festivalindustrie auch weiter durchsetzt, werden wir noch sehen. Aktuell stellt sich die Frage, welchen Einfluss diesjährige Ereignisse auf die nächsten Berlinale-Ausgaben haben werden und wie viel an politischem Diskurs in Zukunft übrig bleibt. Die Berlinale hat nun zu entscheiden, welche Plattform sie sein möchte und ob sie dem Motto des politischen Kinofestivals treu bleibt.
Große Namen und kleine filmische Perlen
Trotz all den Diskussionen darf man nicht vergessen, dass die Berlinale doch dafür da ist, um die Filmkunst zu feiern. Genau das habe ich gemacht: neun Tage lang, mit zwei Kurzfilmprogrammen und 38 Langfilmen in der Tasche. Von großen Premieren bis hin zu nieschigen Kleinproduktionen – es war alles dabei. Auf ein paar Favoriten möchte ich nun aufmerksam machen.
Zuerst aber – die Premieren, auf die lange gewartet wurde. Man denkt sofort an Mickey 17 von Bong Joon Ho, aber auch Blue Moon von Richard Linklater. Beides sind äußerst unterhaltsame Filme, denen es gleichzeitig nicht an Sozialkritik fehlt. Es macht einfach Spaß, sie im Kino zu schauen, was durch viele positive Stimmen aus der Presse und von Festivalgästen bestätigt wurde. Ich bin mir ganz sicher, dass „Mickey 17“ einen erfolgreichen Kinostart haben wird – in den deutschen Kinos ist er übrigens ab dem 6. März zu sehen.
Eine überraschende Entdeckung ist für mich Köln 75 von Ido Fluk gewesen. Der Film erzählt die Geschichte vom legendären Köln Concert des Jazzpianisten Keith Jarrett aus der Sicht von Vera Brandes, einer jungen Musikmanagerin. Selten hat man bei größeren deutschen Mainstream-Produktionen, geschweige von Biopics, hohe Erwartungen. „Köln 75“ schafft es aber, auf eine leichte Weise über schwierige Themen wie Eltern-Kind Beziehungen, Feminismus und Freundschaft zu sprechen, und bleibt dabei wahnsinnig dynamisch und lustig. Seine Energie ist ansteckend und selbst wenn man keine Ahnung vom Jazz hat, bekommt man in diesem Film ein gutes Bild von diesem Musikstil vermittelt. Auch dieser Film ist bald bundesweit zu sehen – der Kinostart ist am 13. März.

Meine zwei klare Festivalfavoriten habe ich erst ganz zum Ende der Berlinale entdeckt. Der Debutfilm Le rendez-vous de l’été (That Summer in Paris) der Regisseurin Valentine Cadic dokumentiert Paris während der Olympischen Sommerspiele 2024, durch die Augen der Protagonistin Blandine aus der Normandie. In Paris möchte sie ihre Lieblingsathletin bei einem Live-Auftritt sehen; dabei begegnet sie diversen Menschen und geht durch einige unangenehme Situationen (wer musste schon nicht in einem vollgepackten Hostel unter Schlafmangel leiden?). Der leicht melancholische Ton des Films und eine gewisse Magie der sommerlichen Großstadt machen den Film zu einem sehr besonderen Kinoerlebnis. Der Dokumentarfilm Listy z Wilczej (Letters from Wolf Street) von Arjun Talwar, eines aus Indien stammenden Filmemachers in der polnischen Hauptstadt, stellt mit Humor und aller Ernsthaftigkeit die Frage, wie und ob überhaupt eine perfekte Integration möglich ist, wenn es immer mehr Rechtsruck gibt. Dabei porträtiert er die polnische Gesellschaft in all seiner Vielfältigkeit anhand seiner Straße – der Wolf Street.

Zu guter Letzt möchte ich eine ganz besondere Entdeckung dieser Berlinale erwähnen, nämlich die Sektion Classics. Dabei gab es ein besonderes Highlight, aber zuerst eine wichtige Frage. Wie viel Kino aus der DDR hat man schon gesehen? Nun ja, wenn doch nicht so viel, dann darf man den bekanntesten DDR-Hit Solo Sunny nicht verpassen. Seine Restaurierung lief auf dieser Berlinale und ließ mich ganz anders auf den DDR-Film blicken. Eine Variable bleibt also konstant: Genau wegen solcher Entdeckungen freut man sich auf jedes nächste Filmfest und jede neue Berlinale.

